Anfangs wirkt „Online für Anfänger“, trotz des komödiantisch klingenden deutschen Titels, wie ein subtiles Sozialdrama aus der nordfranzösischen Provinz. Auf den zweiten Blick merkt man, dass hier einiges im Argen liegt. Marie (Blanche Gardin) ist arbeitslos; eigentlich hat sie nie gearbeitet. Seit sie von ihrem Mann und dem 15-jährigen Sohn verlassen wurde, verbringt sie ihre Tage damit, die Einrichtung ihrer Wohnung zu verhökern. Dafür muss sie nicht nüchtern sein – was sie auch oft nicht ist.
Info
Online für Anfänger
Regie: Benoît Delépine +
Gustave Kervern,
110 Min., Frankreich 2020;
mit: Blanche Gardin, Denis Podalydès, Corinne Masiero, Vincent Lacoste
Weitere Informationen zum Film
Schule wegen Mobbing-Videos schwänzen
Auch das Leben von Bertrand (Denis Podalydès) ist aus den Fugen geraten: Seine Frau ist gestorben. Nun scheitert er an vermeintlichen Kleinigkeiten – etwa daran, ihr Abo für eine Bio-Gemüsekiste zu kündigen. Kummer bereitet ihm zudem, dass sich seine Tochter wegen eines Mobbing-Videoclips nicht mehr in die Schule traut.
Offizieller Filmtrailer
Kontaktbörse Gelbwesten-Proteste
Die omnipräsente Digitalisierung wird im Alltag der drei Protagonisten vor allem zur Zumutung. Das Pointenfeuerwerk des Films zündet allerdings nur manchmal: Eher altbacken wirken Anspielungen auf in Warteschleifen vergeudete Lebenszeit, vermeintlich kostenfreie Hotlines oder den lästigen Zwang, sich ständig neue Passwörter zu merken.
Kennengelernt haben sich die Hauptfiguren bei den Protesten der so genannten Gelbwesten; sie kochten in Frankreich Ende 2018 hoch und waren so wütend wie diffus, bevor sie im Frühjahr 2019 wieder abflauten. Diffus erscheint auch die Ausrichtung dieser Dramödie; sie geht eher in die Breite als die Tiefe. Obwohl sich das Regieduo Benoît Delépine und Gustave Kervern diesmal gewichtige Themen vorgenommen hat: von sozialer Isolation über Arbeitslosigkeit und Überschuldung bis zu geplatzten Lebensträumen.
Beim One-Night-Stand gefilmt
Dabei stoßen sie auf die Untiefen einer zunehmend digitalisierten Welt; etwa dem Umstand, dass man in der Provinz Dutzende von Kilometern fahren muss, um eine Postfiliale zu finden. Oder genereller Entfremdung: So scheint Marie sich kaum mehr zu wundern, dass sie bei einem One-Night-Stand gefilmt wurde und nun damit erpresst wird.
Mit bemerkenswerter Naivität stolpern die drei von einem Fauxpas zum nächsten. Angesichts ihres Alters um die 50 Jahre wirkt das nicht sonderlich glaubwürdig. Bei jeder Gelegenheit wird die Überforderung der Figuren durch Digitales auf die Spitze getrieben. So verliebt sich Bertrand in eine Stimme am Telefon, die ihm etwas verkaufen will. Er reist nach Mauritius, wo die Angebetete angeblich im Callcenter arbeitet – mit vorhersehbarem Ausgang.
Zwischen Identifikation + Fremdschämen
Später beschließt das Trio, die Tech-Giganten im Silicon Valley höchstpersönlich in ihre Schranken zu weisen, nachdem ihnen nicht einmal ein Super-Hacker mit Spitznamen „Gott“ die Kontrolle über ihre Daten zurückgeben konnte. Da schwankt man als Zuschauer zwischen gelegentlicher Identifikation und häufigem Fremdschämen.
Hintergrund
Lesen Sie hier eine Rezension des Films "Saint Amour – Drei gute Jahrgänge" - skurril-schräges Roadmovie von Gustave Kervern & Benoît Delépine
und hier eine Besprechung des Films "Der Glanz der Unsichtbaren" – launige französische Sozial-Komödie über Obdachlose von Louis-Julien Petit mit Corinne Masiero
und hier ein Beitrag über den Film "The Cleaners" - packende Dokumentation über digitale Zensoren von Hans Block und Moritz Riesewieck
und hier ein Bericht über den Film "The Circle" - Adaption des Bestseller-Romans von Dave Eggers über totale soziale Kontrolle bei einem Internet-Monopolisten durch James Ponsoldt
Pointen-Gewitter überdeckt Tragik
Das David-gegen-Goliath-Motiv geht jedoch in „Online für Anhänger“ nicht auf – auch, weil man oft nicht weiß, über wen hier eigentlich gelacht werden soll. An einigen Stellen wirkt es eher, als würden die digital Abgehängten vorgeführt, anstatt dass der Zuschauer eingeladen wird, sich über eine oft absurde Gegenwart zu amüsieren oder zu ärgern.
In Sachen Digitalisierung und dem mangelnden politischen Willen, ihre Rahmenbedingungen zu gestalten, ist vieles diskussionswürdig. Doch um abstrakte Gefahren in einer stimmigen Story darzustellen, bräuchte es mehr als schenkelklopferischen Humor. Zudem werden die Pointen derart dicht abgefeuert, dass darin enthaltene Tragik oft verloren geht. Obwohl dieser Film bei der Berlinale 2021 einen Silbernen Bären erhielt, erweist er sich leider als vergebene Chance – trotz unterhaltsamer Momente.