Hamburg

Out of Space

Jacqueline Hen (*1989): Inflect, 2018, Acrylspiegel, Holz, LEDs, Motoren, Arduino, Ton. Foto: © Courtesy Jacqueline Hen. Fotoquelle: Hamburger Kunsthalle
Plötzlich diese Übersicht: Die Hamburger Kunsthalle präsentiert Raumbegriffe und -vorstellungen seit den 1970er Jahren. Die Minimalisten stellten den Begriff des Originals infrage – heutige Digital-Simulationen erscheinen eher als Eskapismus.

Seit Kant wissen wir: Menschen können die Welt nur in dreidimensionaler Räumlichkeit wahrnehmen. Dennoch ist der Raumbegriff keineswegs statisch, sondern ständigen Veränderungen unterworfen – abhängig vom jeweiligen Kontext. Wie er in der Kunst der letzten 50 Jahre aufgefasst und gedeutet wurde, führt die Ausstellung „Out of Space“ in der  Hamburger Kunsthalle anhand der Werke von 15 Teilnehmern vor.

 

Info

 

Out of Space

 

18.06.2021 - 28.11.2021

täglich außer montags 10 bis 18 Uhr,

donnerstags bis 21 Uhr

in der Hamburger Kunsthalle, Glockengießerwall 5, Hamburg

 

Weitere Informationen

 

Sie präsentiert Raumvorstellungen der Kunstproduktion seit den 1970er Jahren und macht diese zum Teil partizipativ erlebbar. Die Auseinandersetzung mit dem Raum ist für jedes künstlerische Schaffen grundlegend: Wie wird Raum definiert, konstruiert und inszeniert? Zudem steht die Frage im Raum, wer über den Raum verfügt und wie mit dem öffentlichen Raum umgegangen wird. Dabei spielen politische, soziologische und psychologische Aspekte eine Rolle, mit entsprechenden Auswirkungen auf die Kunst.

 

Labyrinth aus 16 Gittern

 

Arbeiten des Minimalismus und der Konzeptkunst werden mit Werken zeitgenössischer Künstler konfrontiert, um den Wandel der physischen Raumauffassung angesichts digitaler Innovationen erfahrbar zu machen. Ausgangspunkt ist die Skulptur „Untitled“ (1968) von Robert Morris, einem wichtigen Vertreter des Minimalismus: 16 im Raum angeordnete Aluminiumgitter können wie ein Labyrinth begangen werden und machen die Besucher zu Mitwirkenden der Installation. Sie wurde der Kunsthalle 2020 geschenkt.

Feature zur Ausstellung. (c) TIDETVhamburg


 

Gealterter radikaler Minimalismus

 

Die Schau ist in vier Themenkomplexe gegliedert: der eigene Körper als Medium der Raumwahrnehmung; Raum in multimedialer Erweiterung, als Sinneserfahrung und als Medium der Architektur. Dabei fällt auf, wie weit entfernt die einst radikalen Arbeiten des Minimalismus heute erscheinen: Robert Morris, Bruce Nauman, Dan Graham und Charlotte Posenenske haben in den 1960/70er Jahren mit damals revolutionären Konzepten dafür gesorgt, dass sich die Vorstellungen von Kunst und Raum grundlegend veränderten.

 

Von Posenenske ist eine Arbeit aus der Serie „Vierkantrohre“ zu sehen. Die zweiteilige Skulptur aus gefalzten Eisenblechen erinnert durch Material und Verarbeitung bewusst an ein Industrieprodukt; sie versucht, jede künstlerische Individualität auszublenden. Solche seriellen Herstellungsweisen stellten den Begriff des Originals infrage und sollten die Verwertungsmechanismen des kapitalistischen Kunstmarkts unterlaufen, um neue ästhetische Konzepte mit gesellschaftlichen Utopien zu verbinden.

 

Kunstschwips durch VR-Brillen

 

Dagegen setzt die gegenwärtige Kunstproduktion eher auf Verführung und Ablenkung als auf Aufklärung, so scheint es. Aktuelle Beiträge wie die von Jacqueline Hen oder Manuel Rossner wollen vor allem mit Illusionismus oder Lichtzauberei beeindrucken. Für Rossners Simulation „How did we get here?“ muss man eine VR-Brille aufsetzen: Dann erlebt man die  Architektur der Kunsthalle völlig neu; es ist, als agiere man schwebend in ihr.

 

Ähnlich beeindruckend ist „ND-996“ von Armin Keplinger: ein auch wegen seines Scores dystopisch anmutender Schwarzweißfilm. Beim Flug über riesige leere Flächen unter Serien dunkler Quader am Himmel glaubt man, eine Invasion durch Aliens stehe unmittelbar bevor. Solche Simulationen wirken großartig und bigger than life, doch dieser Kunstschwips der Wahrnehmung hält nur kurz an und verblasst rasch wieder – als allerneuster Eskapismus.

 

Mensch schwimmt in Wand-Schacht

 

Hintergrund

 

Lesen Sie hier eine Rezension der Ausstellung "Link in Bio. Kunst nach den sozialen Medien" im Museum der bildenden Künste, Leipzig

 

und hier eine Besprechung der Ausstellung "Sculpture on the Move 1946–2016" mit Werken von Monika Sosnowska im Kunstmuseum Basel

 

und hier einen Beitrag über die  Ausstellung "Move - Kunst und Tanz seit den 60ern" mit Werken von Robert Morris + Bruce Nauman in den Kunstsammlungen NRW, Düsseldorf

 

und hier ein Bericht über die Ausstellung "Ryoji Ikeda: data-verse 1 + 2" - beeindruckende Digitalkunst-Projektion im Kunstmuseum Wolfsburg.

 

Die Ausstellung bietet auch zwei echte Entdeckungen, obwohl – oder gerade: weil – sie im Analogen wurzeln. Eine unbetitelte Installation von Monika Sosnowska löst als enges, verschachteltes Kabinett von Türen und Zwischenräumen geradezu Klaustrophobie aus. Jan Köchermann steuert eine eher kleine Arbeit bei: Für „Dead End Dommitzsch“ hat er ein hochformatiges Rechteck in die Wand geschnitten.

 

Darin schaut man auf eine winzige Metalltreppe in einem Schacht, die in die Tiefe führt und im dunklen Wasser endet. Dort schwimmt ein Mensch, wie auf der Suche nach dem Ausgang. Wie eine Miniatur und doch real, unheimlich und fremd wirkt dieser Blick in ein Modell, das rätsel- und kulissenhaft erscheint. Köchermann gelingt eine Poetik des Raumes mit einfachen Mitteln.

 

Wende der Raumwahrnehmung

 

Als „kurze Realitätsrisse“ bezeichnet der Künstler die Wirkung seiner Arbeiten, die er auch in größerem Maßstab anfertigt. Auf individuelle Weise veranschaulicht er damit das, was heute Spatial turn genannt wird – eine „topologische Wende“ als Kritik an der Dominanz von Zeit- und Zukunftsvorstellungen in der Moderne.

 

Ihr liegt die Einsicht zugrunde, dass der Raum als das Ergebnis sozialer Beziehungen aufgefasst werden muss, der durch die Interessen und das Handeln einzelner Menschen oder Gruppen konstituiert wird. Angesichts des Klimawandels fordert der Soziologe Bruno Latour, eine neue Wahrnehmung von Raum: „Was sind die materiellen Bedingungen, um „da zu sein“ – um als Dasein in der Welt zu sein?“ Jan Köchermann könnte antworten: nicht länger nach vorne streben!