Es geht los wie ein Kickstart in der pole position: Das Gör auf dem Auto-Rücksitz nervt, sein Vater am Steuer dreht sich um und verliert die Kontrolle. Schnitt: Bei der Notoperation im Krankenhaus wird dem Kind eine Platte aus Titan in den Schädel eingesetzt. Das ist offenbar der Auftakt zu einer innigen Liebesbeziehung: Auf dem Parkplatz knutscht es den Unfallwagen.
Info
Titane
Regie: Julia Ducournau,
108 Min., Frankreich 2021;
mit: Vincent Lindon, Agathe Rousselle, Garance Marillier
Weitere Informationen zum Film
Sex nicht im, sondern mit dem Auto
Als Auftakt zu einem Massaker, wie es so schnell und scheußlich sonst nur in Splatter-Movies zu sehen ist: Nach ihrem lesbischen Date müssen binnen weniger Minuten drei weitere Leute dran glauben. Um den Bruch mit ihrem bisherigen Leben komplett zu machen, fackelt sie anschließend ihr Elternhaus ab – inbrünstiger kann man den Generationenkonflikt kaum in Szene setzen. Zwischendurch hat sie noch ekstatischen Bondage-Sex mit einem Cadillac. Wohlgemerkt: nicht in der Limousine, sondern mit ihr.
Offizieller Filmtrailer
Aus Brüsten quillt Motoröl
Auf der Flucht vor den Fahndern gerät Alexia an Vincent (Vincent Lindon). Der Feuerwehr-Hauptmann, dessen Sohn Adrien vor zehn Jahren verschwand, ist stillschweigend bereit, die Streunerin an seiner Statt anzunehmen. Wofür Alexia autoaggressiv ihre Geschlechtsmerkmale ändert, indem sie ihren Busen abbindet, sich die Nase zertrümmert und ihre Haare kurz schert.
Dadurch wird sie akzeptabel für die ethnisch bunte Feuerwehr-Mannschaft, die Vincent wie eine faschistoide Sekte führt. Inklusive schwüler Männerbündelei: Bei Tanzabenden mit harten Techno-Beats mutiert die Truppe zur grölenden Horde. Bis sie durch Alexias Solo-Auftritt verstört wird, die ihre pole dance moves vorführt. Schließlich gebärt sie die Frucht ihrer Liebe zu chromglänzenden Karossen; aus ihren Brüsten quillt Motoröl.
Stoisch wie Chuck Norris
Diese krude Mixtur gewann beim diesjährigen Festival von Cannes die Goldene Palme für den besten Film. Was weniger erstaunlich ist, als der Plot vermuten lässt – befeuert er doch sämtliche gegenwärtigen Feuilleton-Fantasien. Konsumkritik, Gender, #metoo, weibliche Selbstermächtigung, toxische Männlichkeit, Diversity: Indem Regisseurin Julia Ducournau alle Stichworte bedient, suggeriert sie flüchtigen Betrachtern, sie trage zu diesen aktuellen Debatten etwas radikal Neues bei. Eine Art feministischer Body-Horror-Rachethriller-Ästhetik oder so ähnlich.
Passenderweise betont die 32-jährige Agathe Rousselle bei jeder Gelegenheit, sie empfinde sich als „nicht-binär“ und spiele „mit den Geschlechterrollen“. Sie war schon Stickerei-Label-Gründerin, Model, Joggerin, Chefredakteurin eines Online-PR-Magazins und eines feministischen Fanzines. Mit ihrer ersten Langfilmrolle spielt die Schauspielschulen-Abbrecherin stoisch: Trotz aller Action verzieht sie nie ihre mürrische Miene, wie ein Chuck Norris der LGBTQI-Ära.
Kotztüten-Empfehlung für Publikum
Über dessen Knochenbrecher-Kassenschlager der 1970/80er Jahre geht „Titane“ inhaltlich kaum hinaus. Handlungslogik, Charaktere und deren Motivation sind Regisseurin Ducournau erkennbar egal: Sie reiht schräge Szenen und grelle Oberflächenreize aneinander, deren hochpolierte Werbespot-Bebilderung maximale Schockwirkung erzielen sollen.
Hintergrund
Lesen Sie hier eine Rezension des Films "Nocturama" - raffinierte Studie über sinnfreien Jugend-Terror von Bertrand Bonello
und hier eine Besprechung des Films "Climax" - rauschhaftes Sex- und Gewalt-Spektakel von Gaspar Noé
und hier eine Kritik des Films "Touch Me Not" - unsinnlich öde Libido-Lehrgangsdoku von Adina Pintilie
und hier ein Beitrag über den Film "Die feine Gesellschaft" - Neo-Slapstick-Groteske mit Kannibalismus um 1900 von Bruno Dumont mit Juliette Binoche
und hier ein Bericht über den Film "Holy Motors" - schräg-stilisierter Episodenfilm mit Stretch-Limousinen von Leos Carax.
Tradition der hohlen Dekadenz
Damit schreibt Ducournau eine bizarre Traditionslinie des französischen Kinos fort. Seit rund einem Jahrzehnt drehen manche Regisseure sichtlich sinnfreie Spektakel, deren exzentrische Gestaltung einer übersättigten Gesellschaft den Spiegel hohler Dekadenz vorhält. Angefangen mit Leos Carax’ „Holy Motors“ (2012): Der wirre Episodenfilm wird nur durch Fahrten in Stretch-Limousinen zusammengehalten. Gaspar Noé nimmt hochtourige Extrem-Exzesse gerne ohne Drehbuch auf.
Bruno Dumont lässt Frankreichs Nationalheldin „Jeanne d’Arc“ (2019) als artifizielle Sprechpuppe auftreten oder „Die feine Gesellschaft“ (2016) um 1900 zur Kannibalen-Kost werden. Der vielseitigste Filmemacher dieser Riege ist Bertrand Bonello, der auch an der „Titane“-Produktion beteiligt war: Von Pornographie über Zuhälterei, Terror und Okkultismus bis zu Haute Couture ist ihm kein anrüchiges Sujet fremd.
Mogelpackung als Festivalsieger
Doch keiner der Genannten hat bislang die Aufreger-Themen der Saison so schillernd und zynisch in einen Film gepackt wie Julia Ducournau. Der Erfolg spricht für sich: Bei jedem großen Festival greift irgendwann die Jury voll daneben und kürt eine bedeutungsschwangere Mogelpackung zum Sieger. 2018 gewann die staubtrockene Sexualkunde-Doku „Touch Me Not“ von Adina Pintilie bei der Berlinale den Goldenen Bären. Mit „Titane“ zieht in diesem Jahr das Cannes-Festival nach.