Vincent Lindon

Titane

Starke Frauen, schöne Autos: Alexia (Agathe Rousselle) räkelt sich auf der Motorhaube ihres geliebten Cadillacs. Foto: © Carole Bethuel
(Kinostart: 7.10.) Radical Chic in Reklame-Optik: Ein Go-go-Girl frönt Autofetischismus, wird Serienkillerin und dann Adoptivsohn. Mit kruder Body-Horror-Fantasy bedient Regisseurin Julia Ducournau gängige Aufreger-Themen des Feuilletons – dafür bekam sie die Goldene Palme.

Es geht los wie ein Kickstart in der pole position: Das Gör auf dem Auto-Rücksitz nervt, sein Vater am Steuer dreht sich um und verliert die Kontrolle. Schnitt: Bei der Notoperation im Krankenhaus wird dem Kind eine Platte aus Titan in den Schädel eingesetzt. Das ist offenbar der Auftakt zu einer innigen Liebesbeziehung: Auf dem Parkplatz knutscht es den Unfallwagen.

 

Info

 

Titane

 

Regie: Julia Ducournau,

108 Min., Frankreich 2021;

mit: Vincent Lindon, Agathe Rousselle, Garance Marillier

 

Weitere Informationen zum Film

 

Zwanzig Jahre später ist aus dem autovernarrten Knirps eine soziopathische junge Frau geworden. Alexia (Agathe Rousselle) wohnt noch bei ihren Eltern, die sie patzig anschweigt. Zum Geldverdienen trägt sie ihre ganzkörpertätowierte Haut bei Automessen zu Markte, auf denen sie wild geschminkt mit laszivem Showdance die herumlaufenden PS-Freaks animiert. Anfassen verboten: Als einer ihr nachstellt und sie zum Zungenkuss zwingt, rammt sie ihm ihre massive Haarnadel in den Schädel.

 

Sex nicht im, sondern mit dem Auto

 

Als Auftakt zu einem Massaker, wie es so schnell und scheußlich sonst nur in Splatter-Movies zu sehen ist: Nach ihrem lesbischen Date müssen binnen weniger Minuten drei weitere Leute dran glauben. Um den Bruch mit ihrem bisherigen Leben komplett zu machen, fackelt sie anschließend ihr Elternhaus ab – inbrünstiger kann man den Generationenkonflikt kaum in Szene setzen. Zwischendurch hat sie noch ekstatischen Bondage-Sex mit einem Cadillac. Wohlgemerkt: nicht in der Limousine, sondern mit ihr.

Offizieller Filmtrailer


 

Aus Brüsten quillt Motoröl

 

Auf der Flucht vor den Fahndern gerät Alexia an Vincent (Vincent Lindon). Der Feuerwehr-Hauptmann, dessen Sohn Adrien vor zehn Jahren verschwand, ist stillschweigend bereit, die Streunerin an seiner Statt anzunehmen. Wofür Alexia autoaggressiv ihre Geschlechtsmerkmale ändert, indem sie ihren Busen abbindet, sich die Nase zertrümmert und ihre Haare kurz schert.

 

Dadurch wird sie akzeptabel für die ethnisch bunte Feuerwehr-Mannschaft, die Vincent wie eine faschistoide Sekte führt. Inklusive schwüler Männerbündelei: Bei Tanzabenden mit harten Techno-Beats mutiert die Truppe zur grölenden Horde. Bis sie durch Alexias Solo-Auftritt verstört wird, die ihre pole dance moves vorführt. Schließlich gebärt sie die Frucht ihrer Liebe zu chromglänzenden Karossen; aus ihren Brüsten quillt Motoröl.

 

Stoisch wie Chuck Norris

 

Diese krude Mixtur gewann beim diesjährigen Festival von Cannes die Goldene Palme für den besten Film. Was weniger erstaunlich ist, als der Plot vermuten lässt – befeuert er doch sämtliche gegenwärtigen Feuilleton-Fantasien. Konsumkritik, Gender, #metoo, weibliche Selbstermächtigung, toxische Männlichkeit, Diversity: Indem Regisseurin Julia Ducournau alle Stichworte bedient, suggeriert sie flüchtigen Betrachtern, sie trage zu diesen aktuellen Debatten etwas radikal Neues bei. Eine Art feministischer Body-Horror-Rachethriller-Ästhetik oder so ähnlich.

 

Passenderweise betont die 32-jährige Agathe Rousselle bei jeder Gelegenheit, sie empfinde sich als „nicht-binär“ und spiele „mit den Geschlechterrollen“. Sie war schon Stickerei-Label-Gründerin, Model, Joggerin, Chefredakteurin eines Online-PR-Magazins und eines feministischen Fanzines. Mit ihrer ersten Langfilmrolle spielt die Schauspielschulen-Abbrecherin stoisch: Trotz aller Action verzieht sie nie ihre mürrische Miene, wie ein Chuck Norris der LGBTQI-Ära.

 

Kotztüten-Empfehlung für Publikum

 

Über dessen Knochenbrecher-Kassenschlager der 1970/80er Jahre geht „Titane“ inhaltlich kaum hinaus. Handlungslogik, Charaktere und deren Motivation sind Regisseurin Ducournau erkennbar egal: Sie reiht schräge Szenen und grelle Oberflächenreize aneinander, deren hochpolierte Werbespot-Bebilderung maximale Schockwirkung erzielen sollen.

 

Hintergrund

 

Lesen Sie hier eine Rezension des Films "Nocturama" - raffinierte Studie über sinnfreien Jugend-Terror von Bertrand Bonello

 

und hier eine Besprechung des Films "Climax" - rauschhaftes Sex- und Gewalt-Spektakel von Gaspar Noé

 

und hier eine Kritik des Films "Touch Me Not" - unsinnlich öde Libido-Lehrgangsdoku von Adina Pintilie

 

und hier ein Beitrag über den Film "Die feine Gesellschaft" - Neo-Slapstick-Groteske mit Kannibalismus um 1900 von Bruno Dumont mit Juliette Binoche

 

und hier ein Bericht über den Film "Holy Motors" - schräg-stilisierter Episodenfilm mit Stretch-Limousinen von Leos Carax.

 

Das gelang schon ihrem Debütfilm „Raw“ über zwei Schwestern, die im Veterinärmedizin-Studium ihren Appetit auf Menschenfleisch ausleben: Er lief 2016 in einer Nebenreihe des Cannes-Festivals. Nach der Premiere riet das Branchenblatt „Variety“ den Zuschauern, „die Kotztüte bereit zu halten“.

 

Tradition der hohlen Dekadenz

 

Damit schreibt Ducournau eine bizarre Traditionslinie des französischen Kinos fort. Seit rund einem Jahrzehnt drehen manche Regisseure sichtlich sinnfreie Spektakel, deren exzentrische Gestaltung einer übersättigten Gesellschaft den Spiegel hohler Dekadenz vorhält. Angefangen mit Leos Carax’ „Holy Motors“ (2012): Der wirre Episodenfilm wird nur durch Fahrten in Stretch-Limousinen zusammengehalten. Gaspar Noé nimmt hochtourige Extrem-Exzesse gerne ohne Drehbuch auf.

 

Bruno Dumont lässt Frankreichs Nationalheldin „Jeanne d’Arc“ (2019) als artifizielle Sprechpuppe auftreten oder „Die feine Gesellschaft“ (2016) um 1900 zur Kannibalen-Kost werden. Der vielseitigste Filmemacher dieser Riege ist Bertrand Bonello, der auch an der „Titane“-Produktion beteiligt war: Von Pornographie über Zuhälterei, Terror und Okkultismus bis zu Haute Couture ist ihm kein anrüchiges Sujet fremd.

 

Mogelpackung als Festivalsieger

 

Doch keiner der Genannten hat bislang die Aufreger-Themen der Saison so schillernd und zynisch in einen Film gepackt wie Julia Ducournau. Der Erfolg spricht für sich: Bei jedem großen Festival greift irgendwann die Jury voll daneben und kürt eine bedeutungsschwangere Mogelpackung zum Sieger. 2018 gewann die staubtrockene Sexualkunde-Doku „Touch Me Not“ von Adina Pintilie bei der Berlinale den Goldenen Bären. Mit „Titane“ zieht in diesem Jahr das Cannes-Festival nach.