Nikias Chryssos

A Pure Place

Schauspieler auf Leben und Tod: Sektenführer Fust (Sam Louwyck,re) und (Greta Bohacek,li) inszenieren paranoide Abgründe in einem tödlichen Endspiel, das ihn von seinen Schuldgefühlen erlösen soll. Foto: © 2021 Koch Films
(Kinostart: 25.11.) Sozialkritik in Abziehbildern: Nikias Chryssos inszeniert den Aufstand der Schmutzigen gegen die seifige Reinheitslehre eines Sektenführers als gewollt schräge Filmkunst, liefert aber ein überzeichnetes Pastiche aus B-Movie und Sozialdrama.

Ungefähr zeitgleich mit der Staatsschuldenkrise bescherten Filme wie „Dogtooth“ (2009) und „Alpen“ (2011) von Giorgos Lanthimos oder Athina Rachel Tsangaris‘ „Attenberg“ (2010) dem griechischen Kino eine kurze wilde Blüte. Auf den Niedergang von Finanzen, Wirtschaft und Moral im Land antworteten hellenische Filmemacher mit stilisierten Sozialsatiren und gewitzten Dystopien.

 

Info

 

A Pure Place

 

Regie: Nikias Chryssos,

90 Min., Deutschland 2021;

mit: Sam Louwyck, Greta Bohacek, Claude Heinrich 

 

Weitere Informationen

 

Auch der deutsch-griechische Regisseur Nikias Chryssos stellt sich mit der Wahl seiner Themen in diese Reihe. Schon in seinem Erstling „Der Bunker“ von 2015 variierte er Motive von Isolation und Gefangenschaft, Erziehung und Gefolgschaft, wie sie auch bei Lanthimos von zentraler Bedeutung sind, und wendete sie wie jener ins Absurde. Bei der Kritik kam das an, am Publikum ging es weitgehend vorbei.

 

Religiöser Seifenhandel

 

In seinem neuen Film „A Pure Place“ siedelt Chryssos die Handlung auf einer abgelegenen griechischen Insel an. Hier hat der Guru Fust (Sam Louwyck) eine streng hierarchisch organisierte religiöse Gemeinschaft aufgebaut: Die Mitglieder produzieren Seife, mit der sie handeln. Vor allem aber wollen sie vom Schmutz, aus dem der Meister sie einst errettet hat, zu elysischer Reinheit aufsteigen.

Offizieller Filmtrailer


 

Schmutz und Seligkeit

 

Zur untersten Kaste der Sekte gehören die heranwachsende Irina (Greta Bohacek) und ihr jüngerer Bruder Paul (Claude Heinrich). Fust hat die beiden vor Jahren an einem vermüllten Strand der Hauptstadt Athen eingesammelt, damit sie die anfallenden niederen Arbeiten verrichten. Nun jedoch findet er an Irina Gefallen und sieht sie für eine der Hauptrollen in seiner Inszenierung des Endkampfes von Schmutz und Seligkeit vor.

 

Dabei hat er allerdings weder mit Irinas Bindung an ihren Bruder gerechnet noch mit der Empathie, die die Kinder für ihre Schicksalsgenossen empfinden. Zwar berauscht sich Irina zunächst an der Sauberkeit und der Aufmerksamkeit, die ihr zuteil wird. Ganz allmählich jedoch beginnt sie, die Herrschaft über die Insel der Seligen infrage zu stellen.

 

Aufstand der Gedemütigten

 

Derweil entwickelt sich Paul zum Aufrührer: wütend, weil er im Gegensatz zu seiner Schwester weiterhin zu denen gehören soll, die im Schmutz arbeiten müssen. Er beginnt, die eigene Unvollkommenheit zu akzeptieren – und mit dem Versprechen, die Welt von der Reinheit zu befreien, macht er sich auf, die Gedemütigten zur Revolte anzutreiben und dem Dreck zum Sieg zu verhelfen.

 

Hintergrund

 

Lesen Sie hier eine Rezension des Films "Los Conductos" - düsteres Sektenmitglieds-Porträt aus Kolumbien von Camilo Restrepo

 

und hier eine Besprechung des Films "The Lobster" - grotesk surreale Paarungs-Parabel von Yorgos Lanthimos

 

und hier ein Beitrag über den Film "Colonia Dignidad" - packender deutsch-chilenischer Sekten-Thriller von Florian Gallenberger

 

und hier ein Bericht über den Film "Attenberg" - absurdes Coming-of-Age-Drama in Griechenland von Athina Tsangirai.

 

Chryssos versucht Hierarchien und Funktionsweisen einer Sekte vorzuführen; dabei verbindet „A Pure Place“ Elemente der antiken griechischen Sagen mit Figuren aus dem Siegfried-Mythos. Gleichzeitig soll sein Film eine Parabel auf das Auseinanderfallen moderner Gesellschaften sein: Der – dem Anschein nach – charismatische Sektenführer und sein Hofstaat in ihrer Hybris werden karikiert und die Solidarität der Unterdrückten gefeiert. Damit von alldem nichts der Aufmerksamkeit des Publikums entgeht, plappern die meisten Dialoge noch einmal überdeutlich nach, was gerade Sache ist.

 

B-Movie und Sozialrealismus

 

In der Bildsprache scheint vieles auf, das in den vergangenen Jahren als bedeutend oder cool gefeiert wurde. Von Anleihen an englische B-Movies aus den 1960er und 1970er Jahren über den Sozialrealismus des neueren griechischen und Berliner Films bis zu Stilisierungen wie aus Nicolas Winding Refns „Drive“ (2011) wurde alles verarbeitet, was Regisseur und Kameramann in den Sinn kamen.

 

So ist ein in großen Teilen unfreiwillig überzeichnetes Pastiche entstanden, das gleichzeitig in zu viele Richtungen weist und sich selbst als – gewollt – schräge Filmkunst um einiges zu ernst nimmt. Bei Lanthimos und Tsangaris funktionieren Skurrilität und Plakativität gerade deshalb so gut, weil es ihnen gelingt, Charaktere in der ihnen eigenen Widersprüchlichkeit abzubilden – dagegen hantiert Chryssos allein mit Abziehbildern.