James Erskine

Billie – Legende des Jazz

Billie Holiday auf der Bühne. Foto: © Prokino/ Getty / Michael Ochs Archives / REP Documentary / Marina Amaral
(Kinostart: 11.11.) Zwei Lebensläufe mit tragischem Ende: Regisseur James Erskine erzählt eine doppelte True-Crime-Story über eine unbekannte Journalistin – weiß, jüdisch, bürgerlich – und den Weltstar Billie Holiday – schwarz, drogenabhängig, im Visier des FBI.

Am filmischen Potenzial von Billie Holidays Leben hat spätestens seit ihrem Tod im Jahr 1959 niemand gezweifelt. Das Biopic „The United States vs. Billie Holiday“ brachte die Geschichte der Jazzsängerin erst vor einigen Monaten auf die große Leinwand; es erzählte einmal mehr von Sternstunden und Abstürzen, Drogen und Gefängnis. Auch die Dokumentation „Billie – Legende des Jazz“ handelt davon – doch sie findet einen neuen und überraschenden Dreh: Der Film funktioniert wie eine True-Crime-Story.

 

Info

 

Billie – Legende des Jazz

 

Regie: James Erskin,

98 Min., Großbritannien 2019;

mit: Billie Holiday, Charles Mingus, Tony Bennett 

 

Website zum Film

 

Regisseur James Erskine, der bisher vor allem fürs britische Fernsehen gedreht hat, sicherte sich für seine Doku die Rechte an den Tonbandaufnahmen der New Yorker Journalistin Linda Lipnack Kuehl. Sie hatte in den 1970er Jahren mehrere Jahre lang intensiv an einem Buch über Holiday gearbeitet, doch ihr Projekt blieb unvollendet.

 

Tod im Schnee

 

Kuehl wurde 1978 an einem schneereichen Wintertag tot auf einem Gehweg in Washington, DC, aufgefunden. Selbstmord, befand die Polizei damals. Vielleicht hat sie jemand aus dem Fenster ihres Hotelzimmers gestoßen, mutmaßt Kuehls Schwester mehr als vierzig Jahre später vor Erskines Kamera. Sie spricht von Drohungen, die Kuehl erhalten habe, und suggeriert einen Zusammenhang mit der Arbeit an ihrem Buch, in dem Rassismus, ausbeuterische Strukturen der Musikindustrie und FBI-Operationen gegen Holiday eine wichtige Rolle spielen sollten.

Offizieller Filmtrailer OmU


 

Erzählung im O-Ton

 

Linda Kuehl führte Interviews mit rund 200 Personen, darunter den meisten relevanten Akteuren in Holidays Leben: Verwandte und alte Freundinnen, Manager und Musiker, Bewunderer und Geliebte. In den Siebzigern konnten sie alle noch selbst Zeugnis ablegen über das, was in den Dreißiger-, Vierziger- und Fünfzigerjahren geschehen war.

 

Erskines doppelt retrospektiver Ansatz ergibt Sinn. Heute hört man das Material mit großem zeitlichem Abstand, die Interviewten können nicht mehr eingreifen. Es bleibt der rohe, direkte O-Ton: das dreckige Lachen eines ehemaligen Zuhälters über körperliche Gewalt – „Sie wollte es so, sie liebte es!“ – oder der Befehl: „Wenn ich dir was erzähle, dann druckst du es auch so!“. Teile von Kuehls Material wurden bereits mehrmals für Buch- und Filmprojekte über Holiday ausgewertet, aber erstmals sind nun die Tonbänder selbst zu hören.

 

Schwarz, bisexuell, überwacht vom FBI

 

„Billie – Legende des Jazz“ nähert sich seiner Protagonistin über die Faszination und Erkenntnisse von Linda Kuehl und erzählt so parallel von zwei ungleichen Leben – beide finden ein tragisches Ende. Hier die unbekannte Autorin – weiß, jüdisch, bürgerlich; dort der Weltstar – schwarz, bisexuell, drogenabhängig, polizeilich überwacht: Aus diesem Gegenschnitt entstehen immer wieder spannende Kontraste.

 

Hintergrund

 

Lesen Sie hier eine Rezension des Films "The United States vs. Billie Holiday" - gelungenes Biopic über die Tragik ihres Lebens von Lee Daniels

 

und hier ein Beitrag über den Film "Jazz an einem Sommerabend (WA)" - brillante Festival-Doku von Bert Stern + Aram Avakian

 

und hier eine Besprechung des Films "Miles Davis – Birth of the Cool" – hervorragende Doku über die Jazz-Legende von Stanley Nelson

 

und hier einen Bericht über den Film  "Born to be Blue" – eindrucksvolles Biopic über den legendären Jazz-Trompeter Chet Baker von Robert Budreau mit Ethan Hawke

 

Die Songs von Holiday bekommen ausreichend Raum, sich zu entfalten: „Now or Never“ zum Beispiel, „Don’t Explain“, „My Man“ und natürlich „Strange Fruit“. Die Sängerin ist auch selbst in einem Radiointerview zu hören; Erskine setzt sie so in Dialog mit den Menschen aus ihrem Umfeld, mit den Notizen von Kuehl – und mit dem narrativen Kontext, in den der Regisseur alles einbettet.

 

Hypnotisierende Tonspulen

 

Auf der Tonspur funktioniert das immer wieder hervorragend. Auf der Bildebene versucht Erskine, sich mit einem technischen Kniff Billie Holiday zu nähern: Das fast ausschließlich schwarz-weiße Filmmaterial von ihren Auftritten wurde in einem aufwendigen Prozess nachkoloriert. Ausdruck und Aura der Sängerin wirken in diesen Passagen so umwerfend präsent, dass man kaum bemerkt, wie der Rest des Films aus rein illustrativen Fotocollagen zusammenmontiert wird – und wie man von den immer wiederkehrenden Aufnahmen drehender Tonbandspulen hypnotisiert wird.

 

Linda Kuehl bleibt letztlich ein Mysterium. Aber der Reiz an dieser Art von True Crime liegt darin, wie eine reale Tragödie anhand eines ungelösten Falls erzählt wird – und wie sich dabei persönliche Schicksale und Zeitgeschichte überlagern.