
Der Herbst der Literaturadaptionen: Ist es Zufall oder steckt dahinter eine Tendenz, dass in den wenigen Wochen seit der Kino-Wiedereröffnung gleich mehrere Werke auf die Leinwand kamen, die Klassiker der Moderne aus der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts verfilmten? Angefangen mit „Fabian“ von Erich Kästner über „Martin Eden“ von Jack London und „Bekenntnisse des Hochstaplers Felix Krull“ von Thomas Mann bis zur „Schachnovelle“ von Stefan Zweig?
Info
Die Geschichte meiner Frau
Regie: Ildikó Enyedi,
169 Min., Ungarn/ Deutschland/ Frankreich/ Italien 2021;
mit: Gijs Naber, Léa Seydoux, Louis Garrel, Josef Hader, Ulrich Matthes
Heirat wegen Kaffeehaus-Wette
Das Ergebnis ähnelt anderen literarischen Großexperimenten der Epoche, etwa dem „Ulysses“ von James Joyce oder Robert Musils „Mann ohne Eigenschaften“. Füsts Geschichte ist ausschließlich als innerer Monolog ihrer Hauptfigur angelegt, des niederländischen Schiffskapitäns Jakob Störr (Gijs Naber). Aus einer Laune heraus wettet er, diejenige Frau zu heiraten, die als nächste ein Pariser Café betritt. Da es sich um die schöne, verführerische Lizzy (Léa Seydoux) handelt, fällt es ihm leicht, ihr einen Antrag zu machen.
Offizieller Filmtrailer
Er auf See + sie an Land
Lizzy geht darauf ein: Der stattliche Seebär mit altmodisch galanten Manieren imponiert ihr. Anfangs ziehen sich die Gegensätze an, beide verstehen sich bestens. Doch bald schleicht sich Entfremdung ein. Kein Wunder: Er fährt monatelang auf Frachtschiffen zur See, sie vertändelt wohlversorgt ihre Tage an Land. Zudem verzehrt ihn nagende Eifersucht: Was mag seine Gattin in Paris treiben – und mit wem? Den reichen Nichtstuer Dedin (Louis Garrel) macht Jakob bald als gefährlichsten Nebenbuhler aus; ob zurecht oder nicht, bleibt lange ungewiss.
So geht das über etliche Stationen und Jahre hin und her; die meisten zeichnet die ungarische Regisseurin Ildikó Enyedi getreulich nach. Ihre Verfilmung soll ersichtlich dem Geist des Romans gerecht werden, also nichts vergröbern oder unterschlagen. Alle Darsteller füllen ihre Rollen vorzüglich aus; sämtliche Schauplätze sind sorgsam ausstaffiert und beleuchtet; die windungsreiche, aber handlungsarme Story wird in sieben Kapitel unterteilt, um sie zu akzentuieren und mit mehr Spannung aufzuladen.
Parabel für männlichen Kontrollverlust
Vergebens: Mit geschmackvoller Ausstattung, ausgefeilten Dialogen und einer wortreich seine Seelenpein ausbreitenden Hauptfigur wirkt diese Geschichte wie erlesenes Kunsthandwerk – so gediegen und leblos wie die dunklen Holzvertäfelungen, welche die meisten Räume zieren. Seit ihrem Debütfilm „Mein 20. Jahrhundert“, 1989 in Cannes ein Überraschungserfolg, bis zu „Körper und Seele“, mit dem sie 2017 den Goldenen Bären gewann, galt Ildikó Enyedi als Meisterin poetischer Leichtigkeit und zart hingetupfter Melancholie. Davon bleibt bei diesem überladenen Lastkahn von Historienfilm wenig übrig.
Hintergrund
Lesen Sie hier eine Rezension des Films "Körper und Seele" - betörendes Liebesfilm-Märchen im Schlachthaus-Milieu, Berlinale-Gewinner 2017 von Ildikó Enyedi
und hier eine Besprechung des Films "Fabian" - sinnenprall stimmige Verfilmung des Romans von Erich Kästner durch Dominik Graf
und hier einen Beitrag über den Film "Martin Eden" - grandios originelle Adaption des Romans von Jack London durch Pietro Marcello
und hier eine Kritik des Films "Bekenntnisse des Hochstaplers Felix Krull" - Verfilmung des Belle-Époque-Schelmenromans von Thomas Mann durch Detlev Buck
und hier einen Bericht über den Film "Schachnovelle" - beklemmend kühne Adaption der Erzählung von Stefan Zweig durch Philipp Stölzl mit Oliver Masucci
und hier einen Beitrag über den Film "Blau ist eine warme Farbe" – Liebesdrama junger Lesben von Abdellatif Kechiche, Cannes-Sieger 2013, mit Léa Seydoux.
Zu Konflikten nichts Erhellendes
Doch als Retro-Variante der modischen Kritik an toxischer Männlichkeit taugt das nicht: Dafür erscheint der hin und her schwankende Zwei-Meter-Hüne Gijs Naber zu gutherzig und bemüht, seine Ehe zu retten – nur weiß er nicht, wie. Dabei lässt sich seiner Gemahlin nichts vorwerfen: Léa Seydoux flirtet und kokettiert schnippisch, sie reizt die Reichweite ihrer Reize aus, aber sie verrät ihren Gemahl nicht, solange er es nicht tut.
Ebenso wenig bietet „Die Geschichte meiner Frau“ Erhellendes zum Grundkonflikt: Wie lässt sich eine intime Beziehung erhalten, wenn die Partner sich kaum sehen? Obwohl dieses Problem im Zeitalter der Globalisierung akuter ist und mehr Menschen betrifft als je zuvor, wie alle Wochenend-Pendler erfahren.
So gerät der fast dreistündige Film zum opulenten Bilderbogen, der gerade wegen seiner Treue zur Vorlage recht ziellos mäandert; ein Augenschmaus, der den Betrachter etwas ratlos zurücklässt. Trotz ihrer ungemein sorgfältigen Inszenierung hat sich Regisseurin Enyedi am Hauptwerk von Milán Füst verhoben; nicht jedes Literatur- lässt sich kongenial in ein Kino-Epos verwandeln.