Sergei Bondartschuk

Krieg und Frieden (WA)

Vor Beginn der Schlacht: Feldmarschall Kutusow (Boris Sachawa, re.) gibt Befehle aus. Foto: © 1965-67 & 2017 MosfilmFoto: © 1965-67 & 2017 Mosfilm
(Kinostart: 18.11.) Das größte Kino-Epos aller Zeiten: Die siebenstündige Verfilmung des Romans von Leo Tolstoi durch Regisseur Sergej Bondartschuk brach 1966/67 alle Rekorde. Nun kommt sie digital restauriert wieder ins Kino: Nie sah sowjetischer Größenwahn besser aus.

Das Kino schwelgt gern in Superlativen – kein Wunder bei einer Branche, deren Kerngeschäft bigger than life ist. Die längste Produktionszeit, das höchste Budget, die teuersten Superstars, die spektakulärsten Spezialeffekte; solche Aufsehen erregenden Ingredienzen werden alle Nase lang beschworen. Wenn aber ein einziger Film sie alle auf sich vereint, darf man mit Fug und Recht vom größten Kino-Epos aller Zeiten sprechen. Das ist „Krieg und Frieden“.

 

Info

 

Krieg und Frieden (WA)

 

Regie: Sergej Bondartschuk,

422 Min., Sowjetunion 1965-67;

mit: Sergej Bondartschuk, Wjatscheslaw Tichonow, Ljudmila Saweljewa

 

Weitere Informationen zum Film

 

Sieben Jahre Entstehungszeit, vierjährige Dreharbeiten, mehr als 50 Sprechrollen und 12.000 Statisten, eingekleidet in Tausende originalgetreuer Kostüme und Uniformen, umnebelt vom Rauch der 23 Tonnen Schwarzpulver und 40.000 Liter Kerosin, die in den Kampfszenen abgefackelt wurden: Das sind nur einige der zahlreichen Rekorde, die dieser vierteilige Film brach. Doch die größte Sensation ist: In mehr als sieben Stunden Laufzeit implodiert er nicht unter der Last dieser Materialschlacht. Dafür erhielt er völlig zurecht 1969 den Auslands-Oscar.

 

Zeitgefühl einer anderen Ära

 

Regisseur Sergej Bondartschuk gelang es, dem endlosen Bilderbogen einen sorgsam austarierten Rhythmus zu verleihen. Sein Timing stimmt: Der Wechsel von elegischen und intimen Szenen mit dem Lärm von Kampfgetümmel wahrt stets den Spannungsbogen – und vermittelt zugleich das Zeitgefühl einer anderen Ära, in der 30 Kilometer eine Tagesreise und eine lang ersehnte Aussprache den Höhepunkt eines Menschenlebens bedeuten konnten. Das macht diesen Film zu einer einzigartigen, unübertroffenen Seherfahrung.

Offizieller Filmtrailer


 

Konkurrenzprodukt des Kalten Kriegs

 

Er entstand als Konkurrenzprodukt des Kalten Kriegs: 1956 hatte der US-Regisseur King Vidor das 1869 veröffentlichte Hauptwerk von Leo Tolstoi adaptiert – auf rund drei Stunden eingedampft, mit Henry Fonda und Audrey Hepburn in den Hauptrollen. Diese Version kam ab 1959 auch bei sowjetischen Kinogängern gut an, forderte aber russischen Nationalstolz heraus. Es sei Ehrensache für die Filmindustrie der Sowjetunion, hieß es in einem offenen Brief linientreuer Regisseure, Tolstois Riesenroman besser und authentischer zu verfilmen.

 

Das ging man generalstabsmäßig als nationale Kraftanstrengung an. Das Drehbuch konzentriert sich auf fünf fiktive Hauptfiguren des Romans: Die junge Adlige Natascha Rostowa, ihre Verehrer Andrej Bolkonski (Wjatscheslaw Tichonow) und Anatol Kuragin (Wassilij Lanowoj) sowie Pjotr „Pierre“ Besuchow, der als nachdenklicher Beobachter fungiert. Dazu kommt als einzige historische Persönlichkeit Feldmarschall Michail Kutusow (Boris Sachawa), der Oberkommandierende der Armee des Zaren.

 

Armee stellte Tausende von Statisten

 

Mit Sergej Bondartschuk wurde ein 40-Jähriger zum Regisseur bestimmt, der zuvor erst einen Spielfilm gedreht hatte. Er wollte die zentrale Rolle des Pierre Besuchow mit einem Gewichtheber besetzen; als der mangels Talent aufgab, sprang er selbst ein. Für Natascha Rostowa wählte er die erst 19-Jährige Ballerina Ljudmila Saweljewa; die übrigen Rollen vergab er an bewährte Bühnenstars des damaligen sowjetischen Theaterlebens.

 

Für die Massenszenen in Adelspalästen und auf Schlachtfeldern lieferten 40 Museen die nötigen Requisiten. Die sowjetische Armee stellte Abertausende Soldaten als Statisten; das Landwirtschaftsministerium besorgte 900 Pferde, das Verteidigungsministerium Rudel von Spürhunden für eine Wolfsjagd im Winter. Vor den Schlachtszenen wurden Lautsprecher-Systeme unter freiem Himmel installiert, um alle Akteure zu koordinieren. Dennoch herrschte oft Tohuwabohu; während der Dreharbeiten erlitt der Regisseur zwei Herzinfarkte und war minutenlang klinisch tot. Eine dabei erlebte Nahtoderfahrung inspirierte Bondartschuk zur Bebilderung der Agonie von Andrej Bolkonski mit gleißend weißem Licht.

 

Unzuverlässiger Sowjet-Farbfilm

 

Aus Nationalstolz drehte man nicht mit Kodak- oder ostdeutschem ORWO-Farbfilm, sondern solchem aus heimischer Produktion; er erwies sich als äußerst unzuverlässig. Wegen Materialfehlern musste rund ein Zehntel aller Einstellungen nachgedreht werden, manche Schlachtszenen bis zu 40 Mal; das trieb die Kosten entsprechend in die Höhe. Angesichts dieser Probleme ist es ein wahres Wunder, welchen geschlossenen und runden Eindruck das fertige Mammutwerk vermittelt.

 

Im ersten Teil werden die Protagonisten vorgestellt. Pierre, zuvor illegitimer Sohn des Grafen Besuchow, wird von diesem anerkannt und dadurch im Handumdrehen zu einem vermögendsten Erben im Zarenreich. Sein Freund Andrej schließt sich als Adjutant Marschall Kutusow an und erlebt die vernichtende Niederlage von Austerlitz (1805) gegen Napoleons Grande Armée mit. Im zweiten Teil schwankt die Debütantin Natascha zwischen Andrej und Anatole; auch Pierre hegt zarte Gefühle für sie.

 

Nation-building dank Napoleon

 

Der dritte Teil dreht sich um Napoleons Russlandfeldzug 1812. In der Schlacht von Borodino stehen sich auf beiden Seiten je mehr als 100.000 Soldaten gegenüber. Trotz etwa gleich hoher Verluste können die Truppen des Zaren die Grande Armée nicht aufhalten. Im vierten Teil wird Moskau von den Einwohnern geräumt und von den Franzosen besetzt. Doch die Stadt geht in Flammen auf und brennt in vier Tagen nieder. Ohne Nachschub muss Napoleon den Rückzug antreten; sein Heer wird in Scharmützeln von den Russen aufgerieben.

 

Hintergrund

 

Lesen Sie hier eine Rezension über die Roman-Verfilmung "Anna Karenina" von Joe Wright mit Keira Knightley nach Leo Tolstoi

 

und hier eine Besprechung des Films "Der Duellist" - historischer Abenteuerfilm aus Russland von Alexej Mizgirev

 

und hier ein Beitrag über den Film "Mathilde" - differenziertes Psychogramm des letzten Zaren Nikolai II. von Aleksey Uchitel mit Lars Eidinger.

 

Die Verschränkung von Weltgeschichte und persönlichen Schicksalen gelingt im letzten Teil am überzeugendsten. Weil er in Bauernkleidung den französischen Kaiser ermorden wollte, wird Pierre als Gefangener von der Grande Armée mitgeschleppt, bis ihn Partisanen befreien. Dabei trifft er auf den einfachen Landsmann Platon Karatajew, der die gesammelte russische Weisheit schon im Vornamen trägt. Was anfangs ein Kabinettskrieg zwischen Monarchen war, der reiche Adlige kaum betraf, wird im Lauf der Jahre zur Erhebung des gesamten Volkes, dessen Befreiung Kutusow am Ende beschwört: nation-building dank Napoleon.

 

135 Millionen heimische Zuschauer

 

Und zugleich eine Spitzenleistung des Monumentalfilms, vergleichbar nur mit Hollywood-Knüllern wie „Ben Hur“ (1959) mit Charlton Heston oder „Cleopatra“ (1963) mit Elizabeth Taylor. Mit Kamerafahrten von Kränen, an Seilbahnen oder Hubschraubern verlieh Regisseur Bondartschuk dem Geschehen eine nie zuvor gesehene Dynamik. Die Sequenzen im brennenden Moskau, an dessen Kulissen vier Monate lang gezimmert wurde, gehören zum Eindrucksvollsten, was je auf der Leinwand zu sehen war.

 

Das konnte selbst Bondartschuk nicht übertreffen. Sein Spielfilm „Waterloo“ (1970) über Napoleons entscheidende Niederlage bot sogar 15.000 Statisten auf, mehr als je zuvor, fiel aber bei Kritik und Zuschauern durch. Dagegen war „Krieg und Frieden“ höchst profitabel: Das Budget der Mammutproduktion betrug zwar rund 9 Millionen US-Dollar, was heute inflationsbereinigt 50 bis 60 Millionen US-Dollar entspräche. Doch allein in der Sowjetunion wurde der Film von 135 Millionen Zuschauern gesehen und zudem in 117 Länder weltweit verkauft.