Edgar Wright

Last Night in Soho

Sandie (Anya Taylor-Joy) und Jack (Matt Smith) verbringen eine gute Zeit zusammen. Foto: Parisa Taghizadeh/ Focus Features, © 2021 Focus Features, LLC
(Kino-Start: 11.11.) Von London um den Verstand gebracht: Sixties-Fan Ellie gerät in einen Strudel aus Halluzinationen und realem Horror. Sein Psychomärchen überfrachtet Regisseur Edgar Wright mit popkulturellen Referenzen, die vom Retro-Charme ablenken.

Die Grenze zwischen Traum und Alptraum ist fließend: Eben tanzte Ellie (Thomasin McKenzie) noch voller Vorfreude und naiver Leichtigkeit im selbst designten Outfit zum Sixties-Hit „A World Without Love“ des Duos Peter & Gordon durch ihr Kinderzimmer in Cornwall. Wenig später schläft sie mit Kopfhörern und Daunendecke im Gemeinschaftsraum des Studentenwohnheims, weil die Mitbewohnerin ihres Zimmers dort Sex hat und auch sonst eine ziemlich schreckliche Person ist.

 

Info

 

Last Night in Soho

 

Regie: Edgar Wright,

116 Min., Großbritannien 2021;

mit: Anya Taylor-Joy, Thomasin McKenzie, Matt Smith

 

Website zum Film

 

Ellie ist nach London gekommen, um Mode zu studieren. Sie träumt von der großen Karriere und dem verflossenen Glamour der Swinging Sixties – ihrer Lieblingsepoche. Zuhause bei ihrer Oma Peggy (Rita Tushingham) ist sie mit der Musik von Cilla Black und „The Kinks“ aufgewachsen; wie früher ihre Mutter, die vor mehr als zehn Jahren Selbstmord beging. Diesen Verlust zu akzeptieren, fällt Ellie schwer. Manchmal sieht sie ihre Mutter hinter sich im Spiegel oder als Reflexion in einer Schaufensterscheibe. Dann weiß Ellie, dass sie es im Leben für beide schaffen muss.

 

Retro-Glanz + Giallo-Gewalt

 

Doch die Großstadt sei ein hartes Pflaster, warnt anfangs ihre Großmutter. Am Ende des Films hat Ellie nicht weniger als ihr Leben riskiert, um in der Metropole Fuß zu fassen. Dazwischen fabuliert der britische Regisseur Edgar Wright ein schwindelerregendes Psychomärchen aus, das ungeniert zwischen Retro-Glanz und elegant inszenierten Gewalt-Fantasien wie in italienischen Giallo-Horrorfilmen oszilliert.

Offizieller Filmtrailer


 

Verschachtelung von Realität + Wahn

 

Regisseur Wright hat selbst jahrelang in Soho gelebt, die Straßen im Londoner West End und in Fitzrovia durchforstet und jeden Film mindestens einmal angesehen, der jemals dort gedreht wurde. In Sachen Zelluloid und Vinyl ist er ein Freak: Musik und Film gehen bei ihm stets eine enge Verbindung ein. Gute Beispiele dafür sind vor allem sein letzter Spielfilm, die Thriller-Romanze „Baby Driver“ (2017), sowie seine Comicbuch-Verfilmung „Scott Pilgrim vs. the World“ (2010).

 

Auch in „Last Night in Soho“ fasziniert am meisten die präzise Verschränkung von Handlung, Figuren und Soundtrack. Wrights Talent dafür kommt in der zunehmenden Verschachtelung von Realität und Wahn zum Ausdruck, die zugleich den Kern des Films bildet. Um die nötige Ruhe für ihr Studium zu finden, bezieht Ellie ein möbliertes Zimmer bei der freundlichen, alten Mrs. Collins (Diana Riggs). Dort wird sie nachts von immer düsteren und realer wirkenden Träumen heimgesucht.

 

Wegen Tagträumen Polizei einschalten

 

Im Soho ihrer nächtlichen Fantasien trifft sie auf Sandie (Anya Taylor-Joy), eine Möchtegernsängerin in den 1960er Jahren. Einerseits beobachtet Ellie sie staunend, andererseits verkörpert sie sie selbst – wie es ihre Einbildungskraft gerade will. Bald beschränken sich ihre Visionen nicht nur auf den Schlaf.

 

Immer öfter schieben sich die unwirklichen Bilder und Figuren in ihren Alltag und absorbieren ihre Aufmerksamkeit. Bis Ellie irgendwann fest daran glaubt, dass sie als Vermittlerin zwischen der Vergangenheit und der Gegenwart agiert – und daraufhin sogar die Polizei involviert.

 

Liste von 50 Film-Vorbildern

 

Hintergrund

 

Lesen Sie hier eine Rezension des Films "Promising Young Woman" - gelungenes Rache-Drama von Emerald Fennell

 

und hier eine Besprechung des Films "A Cure for Wellness" - glänzend gruseliger Mystery-Horror-Thriller von Gore Verbinski

 

und hier einen Beitrag über den Film "The Neon Demon" – stilisiertes Psychodrama im Model-Milieu von Nicolas Winding Refn

 

und hier einen Bericht über den Film "Postcards from London" – Porträt eines hochkulturell überforderten Edelstrichers in Soho von Steve McLean.

 

Nicht nur die Stadt wächst Ellie allmählich über den Kopf, sondern der ganze Film. Wright ist so verliebt in seine nostalgieselige Konstruktion, dass er seine Protagonistin auf einen Horrortrip schickt, der kein Maß kennt und keine Gnade.

 

Seiner Hauptdarstellerin legte der Regisseur vor dem Dreh eine Liste von nicht weniger als fünfzig Filmen vor, die sie studieren sollte, um ein Gefühl dafür zu bekommen, welche Art von Film ihm vorschwebte. Das Ergebnis wird zur überschwänglich überladenen Mischung von Genre-Referenzen und Motiven aus Filmklassikern, die auf den Zuschauer zunehmend redundant wirken.

 

Letzte Rolle von Diana Rigg

 

Diese gruselige Hommage an das London der 1960er Jahre hat zumindest unwiderstehlichen Retro-Charme. Auch eine buchstäblich unheimlich schöne A-capella-Version des Welthits „Downtown“ (1964) von Petula Clark, die Anya Taylor-Joy mit verführerischer Stimme in einem leeren Saal zum Besten gibt, bleibt im Ohr.

 

Nur noch übertrumpft von der großen Schauspielerin Diana Rigg, die im September 2020 an Krebs starb und hier in ihrer letzten Filmrolle zu sehen ist. Nach eigenen Worten spielte sie lieber böse als gute Figuren: Das passt zu ihrer Mrs. Collins mit diversen Leichen im Keller.