Albrecht Schuch

Lieber Thomas

Literatur und Liebe - alles eins: Thomas Brasch (Albrecht Schuch) schreibt seine Verse auf einen Frauenkörper. Foto: Zeitsprung Pictures / Wild Bunch Germany (Foto: Peter Hartwig)
(Kinostart: 11.11.) Bleiben will ich, wo ich nie gewesen bin: Der Dichter Thomas Brasch lebte als Poète maudit dort, wo das am allerwenigsten hinpasste – in der DDR. Seine Biographie verfilmt Regisseur Andreas Kleinert freizügig und furios, mit einem fabelhaften Albrecht Schuch in der Hauptrolle.

Am 3. November 2001 starb der Dichter, Dramatiker und Regisseur Thomas Brasch an Herzversagen; er war einer der interessantesten Intellektuellen seiner Zeit, in beiden Teilen Deutschlands. Ein in jeder Hinsicht unangepasster Rebell, der sich gern zwischen allen Stühlen niederließ; ein unbehauster, kritischer Geist, gegenüber Autoritäten aller Art konstruktiv respektlos.

 

Info

 

Lieber Thomas

 

Regie: Andreas Kleinert,

150 Min., Deutschland 2021;

mit: Albrecht Schuch, Jella Haase, Ioana Iacob

 

Weitere Informationen zum Film

 

Nach seinem Tod hat ihn der Kulturbetrieb weitgehend ignoriert. Nun wird an sein literarisches und filmisches Werk, das in alle Richtungen ausstrahlt, endlich wieder in gebührender Form erinnert: durch den wunderbaren Film „Lieber Thomas“. Er sei kein herkömmliches Biopic, betont Regisseur Andreas Kleinert, sondern „ein Erinnern an ihn, ein Nachdenken über Brasch – eine auf Tatsachen fußende Fiktion eines realen Lebens.“

 

Papa sitzt im SED-ZK

 

Furios ist bereits der Einstieg: Der 22-jährige Thomas (Albrecht Schuch), seit 1967 Student an der Filmhochschule Babelsberg, legt sich nach einer Vorführung von Jean-Luc Godards „Außer Atem“ mit einer Dozentin an. Nicht zum ersten Mal: Sein aufrührerisches Naturell passt zur weltweiten Aufbruchsstimmung – aber nicht in die autoritär strukturierte DDR. Auch zu Hause streitet er häufig mit seinem Vater Horst (Jörg Schüttauf); der hohe SED-Funktionär jüdischer Herkunft ist von 1966 bis 1969 Vize-Kulturminister.

Offizieller Filmtrailer


 

Als Fräser in der Produktion

 

Sohn Thomas will Schriftsteller werden, kassiert aber angesichts seiner radikalen Texte nur Absagen. Auch die Filmhochschule wirft ihn schließlich raus. Als er mit einer Flugblattaktion gegen den Einmarsch der Truppen der Warschauer-Pakt-Staaten in die Tschechoslowakei 1968 protestiert, schützt ihn auch sein einflussreicher Vater nicht mehr – sondern verrät ihn sogar an die Stasi.

 

Nach kurzer Haft muss er sich „in der Produktion bewähren“: als Fräser im Transformatorenwerk. Danach lebt er als freier Schriftsteller ein Ostberliner Nischendasein im Intelligenzija-Umfeld, verfasst Poesie und Dramen, übersetzt Shakespeare-Stücke, verliebt sich oft und gerne und wird geliebt. Nur nicht von offizieller Stelle: Bis auf ein schmales Gedichtbändchen darf er nichts veröffentlichen. Sein erstes Theaterstück erhält Aufführungsverbot.

 

Sehr eng an Vita angelehnt

 

Derweil wird man in der Bundesrepublik auf den wortgewaltigen Schreiber aufmerksam. Nach der Ausbürgerung Wolf Biermanns aus der DDR verlässt auch er 1976 mit seiner Partnerin Katharina Thalbach (Jella Haase) die hassgeliebte Heimat. In Westberlin wird Brasch nicht heimisch; er will sich nicht instrumentalisieren lassen. Immerhin publiziert er nun in renommierten Verlagen. In den 1980er Jahren dreht Brasch vier Spielfilme, wird damit zwei Mal zum Festival nach Cannes eingeladen, lebt zeitweilig in New York und kehrt nach dem Ende der DDR nach Ostberlin zurück – ohne je leise zu werden.

 

Obwohl der Film kein Biopic sein soll, lehnt sich seine Handlung sehr eng an die Vita des Schriftstellers an. Sämtliche Nebenfiguren sind ebenso leicht zu entschlüsseln. Zudem verwendet Regisseur Kleinert viele Zitate aus Braschs Werk und Ausschnitte aus seinen Filmen. Zeilen seines Gedichts „Was ich habe, will ich nicht verlieren“ fungieren als roter Faden der episodisch angelegten Erzählung. Das Ganze ist offensichtlich ein Herzensprojekt der Macher.

 

Letzter Extrakt aus 10.000 Seiten

 

Als zweieinhalbstündiger Bilderrausch in Schwarzweiß, der zwischen historischer Realität und (alp-) traumhaften Phantasiesequenzen oszilliert; zusammengehalten vom fabelhaften Albrecht Schuch, der sich mit unfassbarer Energie in seine Hauptrolle wirft – buchstäblich in jeder Szene, als gäbe es kein Morgen. Wobei er Brasch nicht nur als Kraftkerl und Poète maudit verkörpert, sondern als einen in jeder Hinsicht maßlosen Menschen, der sich oft selbst im Weg steht.

 

Nach dem Ende der DDR tritt Brasch jahrelang im Alkohol- und Kokain-Nebel auf der Stelle, während Katharina Thalbach auf der Bühne Triumphe feiert: Sein letzter, schmaler Prosaband zu Lebzeiten erscheint 1999 – ein Extrakt aus mehr als 10.000 Manuskriptseiten. So zeichnet der Film das Porträt eines komplexen Charakters, innerlich zerrissen von seinen An- und Widersprüchen; sowohl im Umgang mit Frauen als auch einem System, an dessen spießiger Doppelmoral er sich ständig reibt.

 

DDR als Familienbetrieb

 

Hintergrund

 

Lesen Sie hier eine Rezension des Films "Gundermann" - gelungen facettenreiches Biopic über den DDR-Liedermacher von Andreas Dresen

 

und hier eine Besprechung des Films  "Das Schweigende Klassenzimmer" - Historiendrama über den Widerstand einer DDR-Schulklasse von Lars Kraume

 

und hier ein Beitrag über den Film "Das Geständnis" – fesselndes Kammerspiel über die DDR-Justiz von + mit Bernd Michael Lade

 

und hier einen Bericht über den Film "In Zeiten des abnehmenden Lichts" – vielschichtige Tragikomödie über das Ende der DDR von Matti Geschonneck nach dem Roman von Eugen Ruge.

 

Dabei springt der Film mit dem realen Ereignisverlauf ähnlich freizügig um wie Brasch mit Schriftdeutsch in seinen Texten. Ihn lässt Regisseur Kleinert am Tag des Mauerfalls in einer Ostberliner Klinik nach dem Leichnam seines soeben gestorbenen Vaters suchen; tatsächlich erlag Horst Brasch schon im August 1989 einem Krebsleiden. Doch auf seinen zeitgleichen Tod als plakatives Symbol für den Untergang des Staates, der beide prägte, möchte das Drehbuch nicht verzichten.

 

Solche gelegentliche Geschichtsklitterung – oder poetische Freiheit – verzeiht man dem Film gern; zeigt er doch die DDR auf eine Weise, wie sie wohl noch nie auf der Leinwand zu sehen war: als Familienbetrieb mit selbstgerechten Apparatschiks und opponierenden Freigeistern, die als Verwandte und Bekannte miteinander versippt und verschwägert waren. Die Querköpfe wussten ihre Freiräume zu nutzen: bei rauschenden Festen, privaten Exzessen und einem Katz-und-Maus-Spiel mit der Staatsmacht, die den schöpferischen Nährboden für Braschs Dichtung bildeten.

 

„Außer Atem“ in Ostberlin

 

All das läuft ganz organisch und zugleich rasend schnell ab, wie im anfangs zitierten Nouvelle-Vague-Klassiker „Außer Atem“. Die Bilder vibrieren und schillern wie selten in einem deutschen Film; als adäquate Form für die Ambivalenz von Braschs Leben zwischen zwei Systemen, das für seine Generation durchaus exemplarisch war. So wird „Lieber Thomas“ zum an- und aufregenden Kinoerlebnis, das lange nachhallt.