Alan Taylor

The Many Saints of Newark

Tony Soprano (Michael Gandolfini, li.) als Teenager und Johnny Soprano (Jon Bernthal). Foto: © 2021 Warner Bros./ Barry Wetcher
(Kinostart: 4.11.) Auch für Gangster gibt es kein richtiges Leben im falschen: Für die Mafia-Serie „Die Sopranos“, die jahrelang die TV-Welt begeisterte, liefert Regisseur Alan Taylor den Vorläufer nach. Als Wiedersehens-Fest für Fans; alle anderen haben weniger davon.

„The Many Saints of Newark“ ist nicht einfach nur ein weiterer Gangsterfilm als Epigone der Genre-Meisterwerke von Martin Scorsese, Francis Ford Coppola und Sergio Leone. Dieser Film spielt im New Yorker Vorort Newark der 1960/70er Jahre – und damit im Universum der „Sopranos“, einer der erfolgreichsten Serien des Pay-TV-Senders HBO.

 

Info

 

The Many Saints of Newark

 

Regie: Alan Taylor,

120 Min., USA 2021;

mit: Alessandro Nivola, Jon Bernthal, Michael Gandolfini

 

Weitere Informationen zum Film

 

Die „Sopranos“, da sind sich eigentlich alle einig, haben zwischen 1999 und 2007 für das Format TV-Serie eine neue Ära eingeläutet. Sie leiteten eine Renaissance der Drama-Serien ein; damit haben sie letztlich dem Siegszug von Streaming-Diensten wie Netflix und Phänomenen wie „Game of Thrones“ den Weg geebnet. Auf derart hohem Niveau, dass die nachfolgenden Serien, die das ebenfalls erreichten, sich an zwei Händen abzählen lassen.

 

Handlung über sechs Staffeln

 

Wie ist den „Sopranos“-Machern das gelungen? Zunächst mit einem beeindruckenden dramatischen Handlungsbogen – ein Luxus, der zuvor Mini-Serien (meist Roman-Adaptionen), Telenovelas und Freak-Prototypen wie „Twin Peaks“ vorbehalten war. Bei den „Sopranos“ spannte er sich über sechs Staffeln.

Offizieller Filmtrailer


 

Mafia-Boss liegt auf der Couch

 

Erzählt wird die Geschichte einer Mafia-Familie, die sich allmählich von innen heraus selbst zerstört. Motor der Handlung ist, dass ihr Boss Tony Soprano (James Gandolfini) heimlich eine Psychotherapeutin aufsucht und in diesen Sitzungen die erste wichtige Meta-Ebene eröffnet. Auf der zweiten Ebene ist das Kino entscheidend: legendäre Mafia-Filme, an denen sich heutzutage Gangster weltweit orientieren, wie etwa Coppolas „Der Pate“-Trilogie oder Scorseses „Mean Streets“ und vor allem „Good Fellas“.

 

Die Sopranos wählen die entsprechende Garderobe und zitieren vor dem Spiegel Dialogzeilen aus den Kino-Klassikern; schließlich haben fast alle Darsteller selbst in solchen Filmen mitgemacht. Lorraine Bracco als Therapeutin, die von Tony mal angezogen, mal abgestoßen ist, mimte wenige Jahre zuvor die Gangstergattin von Ray Liotta in „Good Fellas“. Wenn Tonys Neffe Christopher (Michael Imperioli) einem Bäckereigehilfen ohne Not in den Fuß schießt, ist das ebenfalls ein Echo: In „Good Fellas“ wird er Opfer von Joe Pescis berühmten Wutausbrüchen.

 

Hochbetrieb auf den Meta-Ebenen

 

Diese Mischung aus Sex und Gewalt, Psychoanalyse und Popkultur-Referenzen bildete ein Reservoir, aus dem sich dramatisch schier endlos schöpfen ließ. Begleitet von einer verdichteten Bildsprache, in der auch wortlose Einstellungen Bände sprechen konnten, weil auf den Meta-Ebenen ständig Hochbetrieb herrschte. 

 

Wie verhält sich zu diesem Koloss von Mafia-Epos nun „The Many Saints of Newark“ als prequel, also Vorläufer, den Serien-Produzent David Chase mit 15 Jahren Abstand nachreicht? Nicht als die Vorgeschichte, die alles erklärt, indem sie alle Leerstellen in Tonys Vergangenheit beleuchtet. Den historischen Hintergrund bilden die Straßenschlachten im Sommer von 1967; dafür räumt Chase als Skript-Autor den afroamerikanischen Gangs von Newark einen gewissen Platz ein.

 

Vatermord aus Eifersucht

 

Ansonsten kapriziert sich die Geschichte auf einen Seitenzweig im Soprano-Stammbaum. Dass Christophers Vater Anfang der 1970er Jahre von Polizisten erschossen wurde, wie Tony erzählte, erweist sich als falsch. Stattdessen beginnt der Film mit der Rückkehr von Christophers Großvater Aldo („Good Fellas“-Veteran Ray Liotta) aus Italien mit einer wesentlich jüngeren Frau.

 

Sein Sohn Richard „Dickie“, treues Mitglied des Mafia-Clans von Newark, brennt vor Eifersucht. Später erschlägt er Aldo im Affekt, was er vertuschen kann, doch die Saat der Gewalt geht auf. Dennoch wird Tony seinen Onkel Dickie als Schutzheiligen in Erinnerung behalten, obwohl dessen Geheimnis seine eigene Tragödie bereits vorzeichnet.

 

Familienfeier mit Altbekannten

 

Hintergrund

 

Lesen Sie hier eine Rezension des Films "Il Traditore –Als Kronzeuge gegen die Cosa Nostra" - grandioses Anti-Mafia-Epos von Marco Bellocchio

 

und hier eine Besprechung des Films "Detroit" - Rekonstruktion der Rassenunruhen 1967 in Detroit von Kathryn Bigelow

 

und hier einen Bericht über den Film "Not Fade Away" – Drama einer US-Provinz-Rockband in den 1960/70er Jahren von David Chase mit James Gandolfini

 

und hier einen Beitrag über den Film "Genug gesagt" - raffinierte Sitten- und Beziehungskomödie von Nicole Holofcener mit James Gandolfini in seiner letzten Rolle.

 

Die Moral ist klar: Es ist für jeden unmöglich, der Dynamik der Gewalt eines hierarchischen, bei aller Mutterliebe patriarchalischen und bei aller Verklärung räuberischen Systems zu entkommen. Auch für Gangster gibt es kein richtiges Leben im falschen. Das erzählt der „Sopranos“-erprobte Regisseur Alan Taylor im serientypisch lakonischen Stil, mit vielen Andeutungen in der Bildmitte und noch mehr Verweisen am Bildrand.

 

Genüsslich fährt die Kamera das damalige New Jersey ab, das schon nach Verfall und Niedergang aussah. Nach dem setting werden die Akteure eingeführt, genreüblich aus Anlass einer Familienfeier; da sieht man also bestens bekannte Figuren in ihren jungen Jahren. Michael Gandolfini, Sohn des verstorbenen James, ist als Tony erwartungsgemäß ideal besetzt ist. Auch die übrigen Darsteller wirken mehr oder weniger glaubwürdig; nur Alessandro Nivola ist ein arger Fehlgriff, ein Fremdkörper in diesem Mafia-Clan.

 

Testballon für Streaming-Chancen

 

Die Sopranos hatten stets ein gespaltenes Verhältnis zum Kino; ihre Lieblingsfilme sahen sie am liebsten als DVD-Raubkopien. Doch Christophers Ausflug in die Filmbranche endete enttäuschend. So hinterlässt auch diese Familien-Saga im Kino einen zwiespältigen Eindruck.

 

Vermutlich handelt es sich um einen Testballon, mit dem HBO und Warner noch einmal die Markttauglichkeit ihres Franchise-Produktes erproben wollen. Sollten die „Sopranos“ noch eine mediale Zukunft haben, dann wohl auf einer Streaming-Plattform.