Pierre Monnard

Platzspitzbaby – meine Mutter, ihre Drogen und ich

Mia (Luna Mwezi) und ihre Mutter Sandrine (Sarah Spale). Foto: (c) Alpenrepublik GmbH
(Kinostart: 18.11.) Drogenhölle Schweiz: Regisseur Pierre Monnard porträtiert ein Mädchen, das sich von seiner heroinsüchtigen Mutter emanzipiert. Sein Coming-of-Age-Drama nach einem realen Fall ist überzeugend gespielt, aber inhaltlich leicht überfrachtet.

Die Schweiz Mitte der 1990er Jahre: Für die elfjährige Mia (Luna Mwezi) gleicht das Leben mit ihrer heroinsüchtigen Mutter Sandrine (Sarah Spale) dem Tanz auf einem Vulkan, der jederzeit ausbrechen kann. Was er auch regelmäßig tut, wie zum Auftakt eine drastische Eskalation macht: Fluchend und prügelnd treibt sich Sandrine auf dem Platzspitz herum, damals Zentrum der Züricher Drogenszene. Es wird kurz darauf von den Behörden aufgelöst.

 

Info

 

Platzspitzbaby

 

Regie: Pierre Monnard,

100 Min., Schweiz 2020;

mit: Jerry Hoffmann, Sarah Spale, Luna Mwezi

 

Weitere Informationen zum Film

 

Die Süchtigen werden mitsamt ihrem Nachwuchs auf ihre Herkunftsgemeinden verteilt. Da hocken sie nun wie Fremdkörper in beschaulichen Städtchen, deren rechtschaffene Bewohner nichts mit den Junkies zu tun haben wollen. Eine Wohnungsnachbarin ereifert sich über die Ruhestörung durch Sandrines laute Musik, während sie Mias Nöte geflissentlich übersieht. Auch in der Schule wird das Mädchen als Außenseiterin und Spritzenkind abgestempelt.

 

Machtlose Sozialarbeiter + Vater

 

Sandrine hält den Alltagstrott nicht lange ohne Drogen aus. Als dann noch alte Freunde aus der Szene auftauchen, wird sie zu Mias Leidwesen wieder rückfällig. Die mit der Betreuung der Abhängigen beauftragten Sozialarbeiter sind heillos überfordert. Und Mias von der Familie getrennt lebender Vater Andre (Jerry Hoffmann) ist ebenfalls machtlos, so lange Mia mit aller Kraft an ihrer Mutter festhält.

Offizieller Filmtrailer


 

Imaginärer 1950er-Jahre-Freund

 

„Platzspitzbaby“ basiert auf den Erinnerungen von Michelle Halbheer, die in der Züricher Drogenszene aufwuchs und später das gleichnamige Buch darüber schrieb. Der Film zeigt sehr differenziert eine schwierige Mutter-Tochter-Beziehung, geprägt vom stetigen Wechsel zwischen Liebe und Zurückweisung. Sandrine liebt ihre Tochter aufrichtig; gemeinsam stellen sie sich gern vor, sie seien ein Piratinnen-Duo gegen den Rest der Welt. Doch auf jede Liebesbekundung folgt ein emotionaler Missbrauch.

 

Die Mutter übernimmt keine Verantwortung für ihre Tochter. Stattdessen sind die Rollen vertauscht: Das Kind bietet Sandrine den letzten Halt. Die ständige Spannung gleicht Mias imaginärer Freund Buddy (Delio Malär) zumindest zeitweise aus. Mit seiner Schmalztolle, knallgelbem Hemd und dunkelblauem Samtjacket wirkt er den 1950er Jahren entsprungen. Gemeinsam singen die beiden den Ohrwurm „Sloop John B“ (1966) von den Beach Boys, wann immer die Welt Mia zu erdrücken droht; ohnehin bildet Musik den Figuren einen wirksamen Fluchtpunkt.

 

Hang zu Überdeutlichkeit

 

Als Mia Anschluss an eine Clique rebellischer Teenager findet und in der Musical-AG der Schule Anerkennung erhält, schwindet Buddys Präsenz allmählich. Trotz dieser positiven Impulse eskaliert das Leben mit ihrer Mutter immer mehr; sie muss letztlich eine sehr schmerzhafte Entscheidung treffen.

 

Hintergrund

 

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und hier eine Besprechung des Films "Dene wos guet geit" - subtile Satire über Geldgier in der Schweiz von Cyril Schäublin

 

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Regisseur Pierre Monnard inszeniert diese Coming-of-Age-Story sehr sorgfältig, allerdings mit einem Hang zur Überdeutlichkeit, was an seiner Ausrichtung auf ein jugendliches Publikum liegen mag. Auch verfolgt der Film sehr viele Handlungsstränge – Mutter-Tochter-Konflikt, Schwierigkeiten mit Gleichaltrigen, Traum von einer Reise als Flucht vor allen Problemen, Musical-Erfolg, Ämterüberforderung –, was ihn inhaltlich etwas überfrachtet.

 

Grenzen gegen Mama durchzusetzen

 

Dagegen gelingt es der herausragend spielenden Debütantin Luna Mwezi, die Handlung zusammen zu halten. Besonders die Szenen zwischen Mutter und Tochter sind von eindringlicher Intensität. Für ihr Verhältnis ist der Drogenmissbrauch gar nicht der entscheidende Aspekt. Mia geht es vor allem darum, Grenzen durchzusetzen – gerade auch gegenüber Sandrine. Denn selbst die stärkste Mutterliebe kann nicht die Wunden heilen, die sie vorher in rücksichtsloser Grenzübertretung geschlagen hat.