Berlin

documenta. Politik und Kunst: Geschichte 1955 bis 1997

Jörg Immendorf (1945 – 2007): Brandenburger Tor-Weltfrage, documenta 7, 1982, © documenta archiv, Foto: Dieter Schwerdtle / © The Estate of Jörg Immendorff
Altnazis und Antikommunismus: Das Deutsche Historische Museum zeichnet die Entwicklung der größten Ausstellung für zeitgenössische Kunst nach. Mit wenig Interesse für deren Eigenlogik und Perspektiven – ein papierner Rückblick macht die üblichen Buhmänner dingfest.

Einerseits ist diese Ausstellung typisch für das Deutsche Historische Museum (DHM): vollgestopft mit Sachinformationen, solide recherchiert und aufbereitet, nüchtern dargeboten und so textlastig, dass dem Besucher nach stundenlanger Lektüre die Augen flimmern. Dabei allein auf geschichtliche Fakten, Namen und Daten fixiert – eben klassisch DHM.

 

Info

 

documenta. Politik und Kunst: Geschichte 1955 bis 1997

 

18.06.2021 - 09.01.2022

täglich 10 bis 18 Uhr,

donnerstags bis 20 Uhr

im Deutschen Historischen Museum, Pei-Bau, Hinter dem Gießhaus 3, Berlin

 

Katalog 28 €

 

Weitere Informationen

 

Andererseits behandelt diese Schau keine Staatsgebilde oder Geschichtsepochen, sondern die documenta: die größte, umstrittenste, aber auch wandelbarste Ausstellung für zeitgenössische Kunst weltweit. In den bald 70 Jahren ihrer Existenz hat sie ein Eigenleben entwickelt, das den Kunstbetrieb ebenso stark beeinflusst hat wie dieser die jeweilige documenta. Jede Ausgabe war ein präziser Seismograph für den herrschenden Zeitgeist. Davon ist im DHM fast nichts zu spüren.

 

Erst Politik, dann Kunst

 

Denn das dreiköpfige Kuratorenteam stellt im Titel nicht von ungefähr die Politik voran und Kunst an die zweite Stelle. Dem Trio geht es vor allem um zwei Generalthesen, die einander bedingen: erstens, dass die Gründergeneration der documenta-Macher von Altnazis durchsetzt war. Zweitens, dass die Ausstellung eine antikommunistische Ausrichtung hatte, die erst in den 1970er Jahren abklang; bis dahin wurden Künstler aus dem Ostblock selten eingeladen.

Feature zur Ausstellung. © Deutsches Historisches Museum, Berlin


 

Premiere im Bundesgartenschau-Beiprogramm

 

Alle anderen Phänomene eines halben Jahrhunderts, die ihren Niederschlag auf der documenta fanden, werden summarisch abgehandelt. Diese Verengung der Perspektive führt beim Durchgang von der documenta I (1955) bis X (1997) zu merkwürdigen Unwuchten: Manche Ausgaben samt ihrer Akteure werden ausgiebig ausgebreitet, andere nur angetippt. Schon die Darstellung der Premiere hat eine Schlagseite.

 

Dass die documenta I – im Beiprogramm der Bundesgartenschau in Kassel – als Nachhilfe-Kurs über die klassische Moderne angelegt war, die das NS-Regime als „entartet“ verfemt hatte, kommt kaum zur Geltung. Auch die innovative Präsentation – in der Ruine des Fridericianums standen Gemälde auf Stelen mitten in den Räumen – wird ignoriert. Entsprechend willkürlich wirkt die Bildauswahl. Da hängt ein feuerroter Chagall neben einem farbenfrohen „Lebensbaum“ der naiven Malerin Séraphine Louis, als seien solche Arbeiten repräsentativ für die Auswahl 1955 gewesen.

 

Aussortierter jüdischer Expressionist

 

Der Erfinder und Spiritus Rector der documenta, Arnold Bode, seit 1929 SPD-Mitglied, wird mit wenigen Zeilen abgetan. Breiten Raum nimmt dagegen die ambivalente Figur Werner Haftmann ein, der bei den ersten drei documentas als „kunsthistorischer Leiter“ fungierte. Er verordnete ihnen eine deutliche Bevorzugung von abstrakter Kunst, weil in ihr individuelle Freiheiten der westlichen Welt zum Ausdruck kämen; dieser Auffassung blieb er auch als erster Direktor der Neuen Nationalgalerie in Berlin von 1967 bis 1974 treu.

 

Dagegen stellt die DHM-Schau heraus, dass Haftmann 1933 der SA und 1937 der NSDAP beigetreten war; er soll 1944 an Folterungen italienischer Partisanen beteiligt gewesen sein. Wegen seiner NS-Vergangenheit habe er, so vermutet Kuratorin Julia Voss, den jüdischen Expressionisten Rudolf Levy, der 1944 beim Transport nach Auschwitz umkam, von der Künstlerliste der ersten documenta gestrichen. Doch drei hier gezeigte Bilder von Levy legen nahe: Andere Werke waren schlicht origineller – etwa die des überzeugten Nazis Emil Nolde, der sich nach dem Krieg zum inneren Emigranten stilisierte.

 

CIA-Mithilfe + DDR-Auftritte

 

Plausibler sind Belege für eine antikommunistische Stoßrichtung. Am Standort Kassel im Zonenrandgebiet sollte die Ausstellung auch ostdeutsche Besucher anlocken; dafür wurde sie vom „Bundesministerium für Gesamtdeutsche Fragen“ mitfinanziert. Doch in den 1950/60er Jahren prägte der Systemgegensatz die gesamte Welt, auch die der Kunst; der Kalte Krieg zwischen westlicher Abstraktion und „Sozialistischem Realismus“ wurde vielerorts ausgetragen. Dass die CIA Ausstellungs-Tourneen in Europa mitorganisierte, um für den american way of art zu werben, ist seit langem bekannt.

                                                                                           

Schwerer fassbar ist, wie sich umfassende soziale Veränderungen nach 1968 bei der documenta niederschlugen. Dass Harald Szeemann 1972 als Kurator der documenta 5 die Grenze zwischen E- und U-Kultur einriss, indem er allerhand „Bildwelten“ von Werbung über Kitsch bis zu Propaganda ausbreitete, wird nur kurz erwähnt. Eingehend beleuchtet dagegen die Schau das Hickhack um die Auftritte von systemtreuen DDR-Malern wie Willi Sitte, Bernhard Heisig und Wolfgang Mattheuer 1977 auf der documenta 6 – quasi ihr Beitrag zum „Wandel durch Annäherung“. Vorab sehr umstritten, verpuffte er weitgehend folgenlos.

 

Superreichen-Spielplatz + academia-Ableger

 

Noch weniger anschaulich wird die tiefgreifende Veränderung im Kunstbetrieb selbst. 1990 endete der Ost-West-Gegensatz; zwei Jahre später verwandelte Kurator Jan Hoet die documenta 9 in ein kunterbuntes Festival der Spaßgesellschaft, mit Sponsoren-Marketing, Merchandising und Mitmach-Aktionen. Während allmählich der Kunstmarkt zum Spielplatz der Superreichen degenerierte, die mit Millionenwerten spekulieren, schlug die Szene ambitionierter Großausstellungen den gegenteiligen Kurs ein.

 

Hintergrund

 

Lesen Sie hier das Interview "Beuys ist ein deutscher Markenartikel": Sachbuch-Autor Albert Markert über Joseph Beuys' Anleihen bei NS-Traditionen

 

und hier eine Rezension der Ausstellung "Jörg Immendorff: Für alle Lieben in der Welt" - große Retrospektive des Polit-Pop-Artisten im Haus der Kunst, München

 

und hier eine Besprechung der Ausstellung "Emil Nolde: Eine deutsche Legende" über den "Künstler im Nationalsozialismus" im Hamburger Bahnhof, Berlin

 

und hier einen Bericht über die "documenta 14" - Überblick über die weltgrößte Gegenwartskunst- Ausstellung 2017 in Kassel

 

und hier einen Beitrag über die "dOCUMENTA (13)" - Überblick über die weltgrößte Gegenwartskunst- Ausstellung 2012 in Kassel.

 

Sie wurde zur Außenstelle von academia mit theorielastigen Konzepten und hochtrabenden Weltverbesserungs-Forderungen. Angefangen bei der documenta X: 1997 lud Leiterin Catherine David für „100 Tage – 100 Gäste“ ein. Ihre Vorträge boten zwar eine vielstimmige tour d’horizon intellektueller Reflexion, degradierten aber auch die Exponate-Schau zur Illustration einer Ringvorlesung. Seither haben sich beide Tendenzen verstärkt.

 

Überlebte oder neue Funktion? 

 

Die vier documentas im 21. Jahrhundert waren sowohl bemüht, zahllose zuvor wenig beachtete Künstler aufzuwerten, als auch diskriminierten oder sonstwie benachteiligten Gruppen ein Forum zu bieten. Mit der documenta 14 als bisherigem Höhepunkt: Leiter Adam Szymczyk machte sie zur Weltklagemauer für alle Erniedrigten und Beleidigten.

 

Hat sich der documenta-Anspruch, einen Überblick über maßgebliche Strömungen der zeitgenössischen Kunst zu geben, überlebt? Weil der Kunstbetrieb, wie etliche gesellschaftliche Bereiche, in auseinander driftende Fraktionen zerfallen ist, die kaum noch Kontakt zueinander haben? Oder übernehmen Ausstellungen wie sie und diverse Biennalen eine andere Funktion: Ideen, Anliegen und Praktiken eine Bühne zu bereiten, die sonst im streng formatierten Medienzirkus kaum Chancen auf Öffentlichkeit hätten?

 

Rückblick auf geläufige Buhmänner

 

Zu diesen spannenden Fragen hat die DHM-Schau nichts zu sagen: Sie zieht willkürlich 1997 einen Schnitt. Das komplexe Wechselverhältnis zwischen Kunstbetrieb und Gesellschaft, das derzeit durch Globalisierung und Bilder-Inflation wie im Kaleidoskop durcheinandergeschüttelt wird, interessiert sie nur im Rückblick. Da lassen sich geläufige Buhmänner dingfest machen und Feindbilder bestätigen. Eine vertane Chance – aber auch typisch für Ausstellungen des Deutschen Historischen Museums.