Ryûsuke Hamaguchi

Drive my Car

Yusuke Kafuku (Hidetoshi Nishijima) und Misaki Watari (Tôko Miura) vor einer Fahrt. Foto: © Rapid Eye Movies
(Kino-Start: 23.12.) Roadmovie zwischen Hotel und Bühne: Beim Pendeln entfaltet der japanische Regisseur Ryûsuke Hamaguchi die Seelennöte von Regisseur und Chauffeurin – als dezentes Vergangenheitsbewältigungs-Drama mit Bildern voller Poesie.

Ein Meister der leisen Einstellungen: Die Filme des japanischen Regisseurs Ryûsuke Hamaguchi verlangen geduldige Aufmerksamkeit, denn ihre Szenen wirken meist sehr beiläufig, geradezu banal. Obwohl sie scheinbar eindeutig realistisch daherkommen, verbergen sich in diesen Geschichten mehrere Wahrheiten und Wirklichkeiten; sie gilt es wachen Auges zu entdecken. Das tat die Jury der diesjährigen Berlinale: Sie prämierte seinen Episodenfilm „Wheel of Fortune and Fantasy“ mit einem Silbernen Bären.

 

Info

 

Drive my Car

 

Regie: Ryûsuke Hamaguchi,

179 Min., Japan 2021;

mit: Hidetoshi Nishijima, Tôko Miura, Reika Kirishima

 

Weitere Informationen zum Film

 

„Drive My Car“ basiert auf der gleichnamigen Kurzgeschichte von Haruki Murakami. Seine Werke sind trotz ihres weltweiten Erfolgs selten verfilmt worden: Der Bestseller-Autor ist bekannt für verschachtelte Konstruktionen, die sich schwer auf die Leinwand bringen lassen. Regisseur Hamaguchi gelingt es: Im Zentrum des Films stehen der Theatermacher Yûsuke Kafuku (Hidetoshi Nishijima) und seine Fahrerin Misaki (Tôko Miura). Sie kutschiert ihn in einem feuerroten Saab 900 umher; der Wagen gehört Yûsuke und bedeutet ihm viel.

 

Vielsprachige „Onkel Wanja“-Version

 

Eigentlich würde Yûsuke seinen Oldtimer lieber selbst fahren, aber die Verantwortlichen eines Theaterfestivals in Hiroshima bestehen aus Versicherungsgründen darauf, dass er einen Chauffeur bekommt. Yûsuke soll in der Stadt, über der die erste Atombombe abgeworfen wurde, am dortigen Theater „Onkel Wanja“ inszenieren. Seine Interpretation des Dramas von Anton Tschechow ist gewagt: Die Schauspieler tragen den Text in verschiedenen Sprachen vor; darunter auch in koreanischer Gebärdensprache.

Offizieller Filmtrailer


 

Hauptrolle für den Ex-Nebenbuhler

 

Früher hat Yûsuke die Figur des alten Wanja selber gespielt. Davon zeugt eine Kassette mit einer Aufnahme des gesamten Stück – bis auf den Text der Hauptrolle, die er übernommen hatte. Immer wieder hört er das Band im Auto ab. Seinen Part hat er aber an den jungen und populären, aber nicht sonderlich talentierten TV-Darsteller Kôji Takatsuki (Masaki Okada) vergeben; er und das Tonband sind entscheidend zum Verständnis des Geschehens.

 

Es geht um Vergangenheitsbewältigung: Yûsukes vor zwei Jahren verstorbene Frau Oto (Reika Kirishima), deren Tod er nicht verwinden kann, hat ihn mit Kôji betrogen – die Stimme der Drehbuchautorin ist auf der Kassette zu hören. Außerdem kommt Misakis Verhältnis zu ihrer Mutter zur Sprache, genauer: ihre Herkunft und Fähigkeiten als Autofahrerin. Davon berichtet sie Yûsuke sachte, aber zunehmend detaillierter, je öfter sie ihn im Saab vom Hotel zu den Proben und wieder zurück transportiert.

 

Spritztour zur Müllverbrennungsanlage

 

Hintergrund

 

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und hier ein Beitrag über den Film "Mishima – Ein Leben in vier Kapiteln" - brillantes Biopic über den japanischen Autor Yukio Mishima von Paul Schrader

 

und hier einen Beitrag über "Naokos Lächeln" – Verfilmung des Bestsellers von Haruki Murakami über Jugendliebe in Japan um 1970 durch Tran Anh Hung.

 

Einmal machen sie einen Abstecher, weil Yûsuke etwas von Hiroshima sehen will; sie soll einen Ort wählen, der ihr gefällt. Misaki fährt ihn zur hochmodernen Müllverbrennungsanlage am Meer. Dort bekam sie vor fünf Jahren ihren ersten Job als Lastwagenfahrerin, als sie mit 18 Jahren in die Stadt zog. Auf diese Weise erinnert Regisseur Hamaguchi an Hiroshimas fürchterliche Vergangenheit mit wenigen Sätzen und Einstellungen.

 

Die Handlung bewegt sich zwischen wenigen Schauplätzen. Die Räume, in denen die Protagonisten miteinander agieren, bleiben dadurch ebenso nachhaltig in Erinnerung wie die Protagonisten und das Gesagte. Ob im Auto, im Proberaum oder auf der Bühne: Überall streut der Regisseur in die Bilder und Dialoge diskrete, aber bedeutungsvolle Signale ein, so dass der Film trotz drei Stunden Laufzeit durchweg spannend bleibt – der eigenwillig lakonische Erzählstrom bewahrt seinen feinen Rhythmus.

 

Balance zwischen Abstand + Intimität

 

Durch das Fingerspitzengefühl, mit dem Hamaguchi seine Charaktere und ihre Geschichten behandelt, wobei er jederzeit Auswege für sie bereithält, entsteht eine dezent rätselhafte Atmosphäre: Keiner verrät den anderen, aber ebenso wenig gibt jemand sein Innenleben ganz preis. Dabei schafft die Kameraführung eine perfekte Balance zwischen Abstand und Intimität, mit Bildern voller Poesie. “Drive My Car” ist schönstes Kopf-Kino – klug, elegant und geheimnisvoll von Anfang bis Ende.