Ein Meister der leisen Einstellungen: Die Filme des japanischen Regisseurs Ryûsuke Hamaguchi verlangen geduldige Aufmerksamkeit, denn ihre Szenen wirken meist sehr beiläufig, geradezu banal. Obwohl sie scheinbar eindeutig realistisch daherkommen, verbergen sich in diesen Geschichten mehrere Wahrheiten und Wirklichkeiten; sie gilt es wachen Auges zu entdecken. Das tat die Jury der diesjährigen Berlinale: Sie prämierte seinen Episodenfilm „Wheel of Fortune and Fantasy“ mit einem Silbernen Bären.
Info
Drive my Car
Regie: Ryûsuke Hamaguchi,
179 Min., Japan 2021;
mit: Hidetoshi Nishijima, Tôko Miura, Reika Kirishima
Weitere Informationen zum Film
Vielsprachige „Onkel Wanja“-Version
Eigentlich würde Yûsuke seinen Oldtimer lieber selbst fahren, aber die Verantwortlichen eines Theaterfestivals in Hiroshima bestehen aus Versicherungsgründen darauf, dass er einen Chauffeur bekommt. Yûsuke soll in der Stadt, über der die erste Atombombe abgeworfen wurde, am dortigen Theater „Onkel Wanja“ inszenieren. Seine Interpretation des Dramas von Anton Tschechow ist gewagt: Die Schauspieler tragen den Text in verschiedenen Sprachen vor; darunter auch in koreanischer Gebärdensprache.
Offizieller Filmtrailer
Hauptrolle für den Ex-Nebenbuhler
Früher hat Yûsuke die Figur des alten Wanja selber gespielt. Davon zeugt eine Kassette mit einer Aufnahme des gesamten Stück – bis auf den Text der Hauptrolle, die er übernommen hatte. Immer wieder hört er das Band im Auto ab. Seinen Part hat er aber an den jungen und populären, aber nicht sonderlich talentierten TV-Darsteller Kôji Takatsuki (Masaki Okada) vergeben; er und das Tonband sind entscheidend zum Verständnis des Geschehens.
Es geht um Vergangenheitsbewältigung: Yûsukes vor zwei Jahren verstorbene Frau Oto (Reika Kirishima), deren Tod er nicht verwinden kann, hat ihn mit Kôji betrogen – die Stimme der Drehbuchautorin ist auf der Kassette zu hören. Außerdem kommt Misakis Verhältnis zu ihrer Mutter zur Sprache, genauer: ihre Herkunft und Fähigkeiten als Autofahrerin. Davon berichtet sie Yûsuke sachte, aber zunehmend detaillierter, je öfter sie ihn im Saab vom Hotel zu den Proben und wieder zurück transportiert.
Spritztour zur Müllverbrennungsanlage
Hintergrund
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Die Handlung bewegt sich zwischen wenigen Schauplätzen. Die Räume, in denen die Protagonisten miteinander agieren, bleiben dadurch ebenso nachhaltig in Erinnerung wie die Protagonisten und das Gesagte. Ob im Auto, im Proberaum oder auf der Bühne: Überall streut der Regisseur in die Bilder und Dialoge diskrete, aber bedeutungsvolle Signale ein, so dass der Film trotz drei Stunden Laufzeit durchweg spannend bleibt – der eigenwillig lakonische Erzählstrom bewahrt seinen feinen Rhythmus.
Balance zwischen Abstand + Intimität
Durch das Fingerspitzengefühl, mit dem Hamaguchi seine Charaktere und ihre Geschichten behandelt, wobei er jederzeit Auswege für sie bereithält, entsteht eine dezent rätselhafte Atmosphäre: Keiner verrät den anderen, aber ebenso wenig gibt jemand sein Innenleben ganz preis. Dabei schafft die Kameraführung eine perfekte Balance zwischen Abstand und Intimität, mit Bildern voller Poesie. “Drive My Car” ist schönstes Kopf-Kino – klug, elegant und geheimnisvoll von Anfang bis Ende.