Stefan Jäger

Monte Verità – Der Rausch der Freiheit

Hermann Hesse (Joel Basman), Hanna Leitner (Maresi Riegner), Ida Hofmann (Julia Jentsch) und Dr. Otto Groß (Max Hubacher) vor der Casa Centrale auf dem Monte Verità. Foto: © tellfilm, Grischa Schmitz, DCM
(Kinostart: 16.12.) Die Idee ist gut, doch die Welt noch nicht bereit: Bei Ascona in der Südschweiz entstand die erste moderne Aussteigerkolonie. Daran erinnert Regisseur Stefan Jäger mit dem Porträt einer Frau, die vor ihrem Mann flieht – die Kunst-Tradition des Ortes spielt keine Rolle.

Schöne junge Menschen posieren vor einer Villa im Grünen für ein Foto. Die Sonne scheint und lässt die Farben leuchten. Die Gruppe hält still. Dann wird alles schwarz-weiß und friert kurz zum Standbild ein. Szenen wie diese kehren immer wieder in Stefan Jägers Film: In dieser Geschichte, die 1906 spielt und auf historischen Vorgängen beruht, werden Farben plötzlich schwarz-weiß, Bewegung wird Stillstand, Euphorie wird zu Depression.

 

Info

 

Monte Verità –
Der Rausch der Freiheit

 

Regie: Stefan Jäger,

150 Min., Schweiz/ Österreich/ Deutschland 2021;

mit: Maresi Riegner, Max Hubacher, Julia Jentsch

 

Website zum Film

 

Die abrupten Wechsel lassen sich als Metapher für das Innenleben der Protagonistin Hanna Leitner (Maresi Riegner) verstehen. Sie flieht eines Tages dorthin, wo die Menschen auf dem Foto ein alternatives, freieres und gesünderes Leben suchen: nach Monte Verità – einem Hügel bei Ascona im Tessin. Dort wurde zu Beginn des 20. Jahrhunderts das gleichnamige Sanatorium gegründet.

 

Flucht mit dem Nachtzug

 

Auch Hanna kommt hierher, um sich von den gesellschaftlichen Zwängen ihres Daseins als gutbürgerliche Ehefrau zu befreien. Ihr Asthma ist nur ein Vorwand, um ihrem autoritären Ehemann Anton zu entkommen: Der erfolgreiche Fotograf schlägt die beiden gemeinsamen Töchter und misshandelt seine Ehefrau. Nach einem Vergewaltigungsversuch packt sie ihre Reisetasche und flieht im Nachtzug Richtung Südschweiz – zum Aussteiger-Paradies, von dem auch sie in Wien längst gehört hat.

Offizieller Filmtrailer


 

Nackt diskutieren + am Lagerfeuer tanzen

 

Die erste Filmhälfte zeichnet die Wochen nach Hannas Ankunft nach. Sie gewöhnt sich nur langsam daran, zwischen Menschen zu leben, die nackt über Philosophie diskutieren, freie Liebe und Künste aller Arten praktizieren oder nachts singend ums Lagerfeuer tanzen. Bald lernt sie von ihrem Arzt (Max Hubacher), dem anarchistischen Psychiater Otto Gross (1877-1920), dass für viele Anwesende der Aufenthalt selbst bereits die Therapie ist.

 

In Gesprächen mit ihrer neuen Freundin, der historischen Sanatoriums-Mitgründerin Ida Hofmann (Julia Jentsch), stellt Hanna allmählich die Ordnung und Prinzipien ihrer bisherigen Welt infrage. Und sie beginnt, eine Leidenschaft auszuleben, die ihr Ehemann Anton zuvor verboten hatte: das Fotografieren.

 

Hermann Hesse zieht sich aus

 

Hannas Emanzipation kontrastiert Regisseur Jäger immer wieder mit Rückblenden auf ihr Wiener Eheleben, in denen sie von ihrem Mann drangsaliert wird. Dass sie gerade dann ins Bild kommen, wenn sie mit ihrer Kamera andere Patientinnen fotografiert, wirkt allerdings wie die psychoanalytische Binsenweisheit, der zufolge Unterdrücktes immer wieder an die Oberfläche zurückkehrt.

 

Hanna nimmt auch das anfangs genannte Gruppenfoto auf: Für die Handlung bietet es eine Art Sehanleitung. Als Hausfotografin kommt sie nicht nur ihrem verborgenen Innenleben, sondern auch den anderen Gästen näher, etwa dem Schriftsteller Hermann Hesse (Joel Basman). Ihn porträtiert sie eines Tages, während er sich nackt auszieht und mit Sätzen um sich wirft, die seinen 1922 veröffentlichten Kultroman „Siddharta“ antizipieren: „Ein Mensch, der nichts begehrt, kann auch nicht leiden“.

 

Gesellschaft ist noch nicht so weit

Hintergrund

 

Lesen Sie hier eine Rezension des Films "Auch Leben ist eine Kunst – Der Fall Max Emden" – spannende Doku über den Kaufhaus-Magnaten und Aussteiger am Lago Maggiore im Tessin von André Schäfer + Eva Gerberding

 

und hier eine Besprechung der Ausstellung "Weltkunst – Von Buddha bis Picasso: Die Sammlung Eduard von der Heydt" über den "Buddha vom Monte Veritá" genannten Kunstmäzen im Von der Heydt-Museum, Wuppertal

 

und hier einen Beitrag über die Ausstellung "Künstler und Propheten: Eine geheime Geschichte der Moderne 1872 - 1972" zur Lebensreform-Bewegung in der Kunsthalle Schirn, Frankfurt

 

und hier einen Bericht über den Film "Siddharta (WA)" – Verfilmung des klassischen Gottsucher-Romans von Hermann Hesse durch Conrad Rooks.

 

In solchen Szenen wirkt Jägers Versuch, Selbstdarstellung und Ausdrucksweise von Lebensreform-Bewegten um 1900 exakt zu treffen, allzu künstlich – als hätten die Aussteiger stets druckreif wie Propheten gesprochen. Dagegen zeigen die Rückblenden auf Hannas ehelichen Alltag in Wien, warum sie sich in ihrer neuen Umgebung nur sehr langsam erholt: Die Wunden, die ihr die Aggressionen ihres Gatten zugefügt haben, reichen tief.

 

In der zweiten Filmhälfte schreibt Hanna, geplagt vom schlechten Gewissen gegenüber ihren Töchtern, ihnen einen Brief. Er endet mit dem Satz, die Gesellschaft sei noch nicht so weit für Menschen wie sie. Jedoch beschränkt sich der Film ganz auf ihre Person und die erste Blütezeit der Aussteiger-Kolonie.

 

Künstler-Zentrum + Mäzen-Hotel

 

Deren spätere Entwicklung spielt keine Rolle: Während des Ersten Weltkriegs sammelten sich hier etliche Emigranten und Flüchtlinge, die später berühmte Künstler und Intellektuelle werden sollten: etwa Hans Arp, Hugo Ball, Ernst Bloch und Hans Richter – auch Alexej Jawlensky, Marianne Werefkin und Paul Klee waren zu Gast. Zugleich wurde der Monte Verità durch Isadora Duncan, Rudolf von Laban und Mary Wigman eine Wiege des modernen Tanzes.

 

1926 erwarb der Bankier und Mäzen Eduard von der Heydt den Berg; er ließ dort ein mondänes Hotel errichten, das er mit Teilen seiner riesigen Kunstsammlung ausstattete. Nach dem Zweiten Weltkrieg wurde es still um das legendäre Terrain, bis es 1978 eine große Ausstellung wieder an seine Kunst-Tradition erinnerte. Heutzutage dient die Anlage für wissenschaftliche Konferenzen; vom Befreiungspathos um 1900, an das Jägers Film erinnert, ist nichts mehr zu spüren.