
Das kleine Bhutan im östlichen Himalaya, etwa so groß wie die Schweiz, ist ein besonderes Land. Trotz weit verbreiteter Armut gilt es als eine Art Shangri-La und löst vielerorts positive Projektionen aus – nicht zuletzt, weil der bis 2006 herrschende König Jigme Singye Wangchuck ein hohes “Bruttonationalglück” anstelle von reinem Wirtschaftswachstum als politisches Ziel definierte. Entscheidend sei, wie glücklich sich die Menschen fühlten – angeblich sind das in dem buddhistischen Land über 90 Prozent der rund 800.000 Einwohner.
Info
Sing me a Song
Regie: Thomas Balmès,
99 Min., Bhutan/ Deutschland/ Frankreich 2019;
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Strom löst Hausbrände aus
Im Mittelpunkt des Dokumentarfilms steht, wie auch schon bei „Happiness“, der junge Mönchsnovize Peyangki. Im Prolog zu „Sing Me A Song“, der aus „Happiness“ übernommen wurde, erzählt der seinerzeit Achtjährige von seinen Vorstellungen über die Zukunft. Etwa, dass er Lama werden will. Doch auch die weite Welt interessiert ihn; zum Beispiel Flugzeuge. Und die Straße, die Laya mit dem Rest des Landes verbinden und Strom zu seinem Ort bringen soll – was ihn aber zugleich mit Sorge erfüllt. Er habe gehört, dass Elektrizität Hausbrände auslösen kann.
Offizieller Filmtrailer
Via WeChat Kontakt zu Barfrau
Die Realität, die der Fortschritt mit sich bringt, erweist sich allerdings als vielschichtiger. Acht Jahre später sieht der Alltag des nun 16-Jährigen auf den ersten Blick kaum anders aus als ein knappes Jahrzehnt zuvor. Und doch hat sich sein Leben fundamental verändert. Wenn er und die anderen Novizen sich in ihre Gebete versenken, werfen sie zwischendurch immer wieder einen Blick auf ihre Handys – zum Unmut ihrer Lehrer, die allerdings ihrerseits nicht selten auch handysüchtig sind.
In Gedanken ist Peyangki die ganze Zeit bei Ugyen. Er hat sich über die chinesische Social-Media-Plattform „WeChat“ in die junge Frau verguckt. Sie lebt in der Hauptstadt Thimphu, arbeitet in einer Bar und schickt ihm per Sprachnachrichten Liebeslieder. Nun will er sie persönlich kennenlernen. Um Geld für die Reise aufzutreiben, sammelt er Heilpilze, die sich teuer verkaufen lassen. Als Peyangki und Ugyen sich erstmals real treffen, sind allerdings beide enttäuscht – diese Erfahrung teilen sie zweifellos mit vielen Menschen in aller Welt.
Zombie-Teenies bei Ballerspielen
Ugyen klagt, dass sie sich Peyangki größer vorgestellt habe. Ohnehin träumt sie von einem Leben in Wohlstand und erwägt dafür, nach Kuwait auszuwandern. Peyangki wiederum ist enttäuscht, dass seine Chat-Partnerin schon ein Kind hat. Trotzdem will er zunächst nicht in sein Kloster zurückkehren, sondern verliert sich in der großen Stadt. Die wird als größtmöglicher Kontrast zum entlegenen Kloster in den Bergen präsentiert: In Spielhöllen verdaddeln zombiehafte Teenager ihre Zeit mit Ballerspielen. Dichter Verkehr knattert laut, Neonlichter blinken.
Wie der Regisseur diese dokumentarische Coming-of-Age-Geschichte in Szene setzt, wirkt bisweilen geradezu spielfilmartig. Man fragt sich, wie die perfekt aussehenden Bilder entstanden sind. Kam Balmès seinen Protagonisten so nahe, dass sie sich auch in höchst privaten Momenten filmen ließen? Oder wurden manche Schlüsselszenen doch nachgestellt?
Doku-Fiction als Hybrid-Genre
Das Ergebnis erinnert ein wenig an Arbeiten der mongolischen Regisseurin Byambasuren Davaa. Ihre Werke wie „Die Geschichte vom weinenden Kamel“ (2005) oder auch „Das Lied von den zwei Pferden“ (2009) sind zwischen Dokumentarfilm und Fiktion angesiedelt.
Hintergrund
Lesen Sie hier eine Rezension des Films "Die Adern der Welt" – anschaulich-einfühlsamer Öko-Krimi aus der Mongolei von Byambasuren Davaa
und hier eine Besprechung des Films "Chaddr – Unter uns der Fluss" – facettenreiches Porträt einer Familie in der indischen Himalaya-Region Ladakh von Minsu Park
und hier einen Beitrag über den Film "Pawo" – optisch opulentes Doku-Drama über tibetischen Widerstand gegen China von Marvin Litwak
und hier einen Beitrag über den Films "My Reincarnation – Wiederkehr" – Doku über den Sohn eines tibetischen Dzogchen-Lehrmeisters von Jennifer Fox.
Wohlfeil bis holzhammerartig
Der Film verdeutlicht seine Aussagen mit krassen Gegensätzen. Das ruhige Leben im Kloster wird urbanen Abgründen gegenüber gestellt; das warme Dunkelrot der Roben junger Mönche kontrastiert mit Spielzeuggewehren aus Plastik, die sie auf dem Markt kaufen, um Online-Games nachzustellen. Oder auch: Warmes Kerzenlicht erhellt das Kloster; grell leuchten dagegen die Handy-Displays.
So bietet Regisseur Balmès anregende Schauwerte, aber letztlich kaum überraschende Erkenntnisse. Die allzu vereinfachten Unterschiede zwischen althergebrachten Traditionen und brachialer Modernisierung erscheinen etwas wohlfeil, manchmal sogar holzhammerartig – wenn etwa Ugyen ausführlich mit ihren Freundinnen über Videoclips von Enthauptungen spricht, die sie im Internet gesehen haben.
Westliche Asien-Sehnsüchte
Ästhetisch ist der der Film durchaus ein Genuss, doch er blickt wenig differenziert auf den gesellschaftlichen und technologischen Wandel in Bhutan. Und bedient mit dieser Ausrichtung gängige westliche Sehnsüchte in Bezug auf buddhistisch geprägte Regionen in Zentralasien.