Berlin

Ways of Seeing Abstraction

Kapani Kiwanga: Counter-Illumination #2, Farbiger C-Print auf Glanzpapier, 80 × 120 cm. Fotoquelle: Deutsche Bank AG, PalaisPopulaire
Anything goes, solange es ungegenständlich ist: Abstrakte Kunst seit den 1960er Jahren kennt zahllose Spielarten. Das zeigt eine Schau im PalaisPopulaire mit Werken aus der Sammlung der Deutschen Bank – von Lochkarten über Jalousien bis zum Raumpfeiler-Quadrat.

Abstraktion geht immer. Längst vergangen sind die Scharmützel, in denen der Verzicht auf gegenständliche Motive als Weltsprache der Freiheit beschworen oder – mit heftigem Widerspruch – als realitäts- und volksfern verdammt wurde. Solche pathetisch ausgetragenen Grabenkämpfe der 1950/60er Jahre sind Kunstgeschichte.

 

Info

 

Ways of Seeing Abstraction – Works from the Deutsche Bank Collection

 

27.03.2021 - 28.02.2022

täglich außer montags

11 bis 18 Uhr,

donnerstags bis 21 Uhr

im PalaisPopulaire, Unter den Linden 5, Berlin

 

Katalog 35 €

 

Weitere Informationen

 

Friedhelm Hütte kann als Leiter der Kunstsammlung Deutsche Bank seit den 1980er Jahren weltweite Bestände durchforsten und nach persönlichem Gusto mixen. Genau das ist sein Konzept für die neue Ausstellung im Palais Populaire: eine individuelle Sicht auf das offene Werk. „Ways of Seeing Abstraction“ versammelt rund 170 Arbeiten von 70 Künstlern aus zwölf Ländern auf vier Kontinenten. Trotz demonstrativer Globalität stammt das Gros der Exponate, die zwischen 1959 und 2021 entstanden sind, aus europäischen Ateliers.

 

Geometrisches aus Iran + Bangladesh

 

Tausende hauchdünne Filzstiftlinien schichtet der gebürtige Iraner Nima Nabavi zu schimmernden Farbschleiern; im Duktus präzise wie Computergrafiken, aber komplett handgemacht. Seine kristallin anmutenden Konstruktionen setzen die geometrische Tradition islamischer Kunst in der Gegenwart fort. Die knallroten Linienbündel, die Rana Begum aus Bangladesh auf hauchzartes, vergilbtes Pauspapier gezeichnet hat, könnten dagegen von einem Konstruktivisten aus den 1920er Jahren stammen. Doch sie entstanden 100 Jahre später.

Feature zur Ausstellung. © PalaisPopulaire


 

Politisch aufgeladene Abstraktion

 

Auf Chronologie oder stilistische Schubladen verzichtet die Schau; was hier zu sehen ist, soll für sich wirken. So begegnen sich arrivierte und aktuelle Positionen, auch auf die Gefahr der Beliebigkeit hin. Am Anfang des Parcours hängen farbstarke Gouachen von Wilhelm Müller. Als einer der wenigen Künstler, die in der DDR geometrisch und abstrakt arbeiteten, erwies er mit seinen „Variationen über ein Thema von Otto Freundlich“ einem von den Nazis ermordeten Kollegen seine Reverenz – selbst abstrakte Kunst kann politisch aufgeladen sein.

 

Im oberen Geschoss der zweigeteilten Ausstellung sind kühl geometrische Spielarten unter sich. Die Werke geben klare Kante, mit knalligen Kontrasten und monochromen Flächen. Und sie schaffen es, sich nirgends zu wiederholen, trotz aller formalen Reduktion. Unverwechselbar: plakative Diagonalen von Günter Fruhtrunk, wuchtig-klare Collagen des Bildhauers Ulrich Rückriem, oder Beispiele aus den abstrakten Werkphasen von Gerhard Richter – er darf natürlich nicht fehlen.

 

Ein Hauch von Nichts am Raumpfeiler

 

Für die zahllosen Nuancen seiner frühen Farbtafel-Grafiken loste er das Mischungsverhältnis der Grundfarben Rot, Gelb und Blau per Zufall aus und ließ die Ergebnisse maschinell drucken. Anderen Künstlern kam handelsübliches Büromaterial gerade recht: Peter Roehl reihte schnöde Computer-Lochkarten seriell zum Quadrat. Charlotte Posenenske fixierte farbiges Klebeband unordentlich und trotzdem fein austariert auf Papier; minimalistisches Understatement anno 1965. Ist das noch reine Abstraktion oder schon Objektkunst?

 

Hintergrund

 

Lesen Sie hier eine Rezension der Ausstellung "Object of Wonder" über "British Sculpture from the Tate Collection 1950s – Present" im PalaisPopulaire, Berlin

 

und hier eine Besprechung der Ausstellung "The Music of Color": große Retrospektive des abstrakten afroamerikanischen Malers Sam Gilliam im Kunstmuseum Basel

 

und hier einen Beitrag über die Ausstellung "Otto Freundlich - Kosmischer Kommunismus" - eindrucksvolle Retrospektive des originellen Abstrakten in Köln + Basel

 

und hier ein Bericht über die Ausstellung "K.O. Götz": prächtige Retrospektive zum 100. Geburtstag des Informel-Malers in Berlin, Duisburg + Wiesbaden

 

und hier einen Artikel über die Ausstellung "Gerhard Richter - Abstraktion" - große Retrospektive im Museum Barberini, Potsdam.

 

Das minimalistischste aller Werke steuert Karin Sander bei. Sie fügte nichts hinzu, sondern nahm etwas weg. Ihre Mitarbeiter schliffen in geduldiger Präzisionsarbeit ein glattes Quadrat aus der weißen Dispersionswandfarbe eines Raumpfeilers. Ein Hauch von Nichts, in perfekter Geometrie. Als ein derartiges, aber wesentlich größeres „Wandstück“ von Sander vor einigen Jahren am Sitz der Deutschen Bank in Frankfurt realisiert wurde, sorgte es für Fragen: Wo denn das Kunstwerk sei, wollten irritierte Betrachter wissen.

 

Wie Vulkaninseln im Meeresblau

 

Unübersehbar und dennoch für einen trompe-l’œil-Effekt gut sind Werke der Frankokanadierin Kapwani Kiwanga. Ihre großformatigen Hochglanz-C-Prints vermengen Fotoästhetik und abstrakte Farbraum-Kompositionen. Aus Jalousien, Kugellampen und Lichtkanten lässt sie unauslotbare, imaginäre Räume entstehen. Auch andere Künstler frönen der Abstraktion, indem sie mit fotografischen Mitteln die Wahrnehmung foppen. Nicht alles, was wie pastose Malmaterie aussieht, muss wirklich mit dem Pinsel aufgetragen worden sein.

 

Die zweite Hälfte der Schau im Untergeschoss gehört den freien, gestischen und informellen Spielarten. Hier wird gekleckst und wild gepinselt, aber nicht nur. Wie Inseln mit Vulkanen schwimmen glutrote Formgebilde im sich kräuselnden Meeresblau: Kerstin Brätsch hat dafür mit einem Fachmann für Marmoriertechnik zusammengearbeitet. Ihre riesige Druckgrafik gleicht einer imaginären Landkarte und ist tatsächlich faltbar – nach dem Muster eines Falk-Stadtplans.

 

Schwarze Schlieren um leere Mitte

 

Den Schlusspunkt der Schau bildet ein stilles Werk des 2000 verstorbenen Lothar Quinte. Es ist von düsterer Farbigkeit; graue Farbnebel überlagern sich wie Vorhänge. Aber wird es im Zentrum nicht heller, mit rötlichem Lichtschimmer? Das mag manchen als hoffnungsvoller Ausblick erscheinen, anderen eher als Resonanzraum für depressive Stimmungen. Ähnlich „Corona VII“: Franziska Furter malte das Werk 2013 mit Tusche auf Papier. Zu sehen sind nur Kreise aus schwarzen Schlieren um eine leere Mitte.