In gemessenem Schnitttempo und farbsatten Bildern erzählt Regisseur Shipei Wen eine klassische Geschichte von Schuld und Sühne. Sie beginnt im Gefängnis, wo der Verurteilte rekapituliert, wie er hierher gekommen ist.
Info
Are you lonesome tonight?
Regie: Shipei Wen,
95 Min., China 2021;
mit: Eddie Peng, Sylvia Chang, Wang Yanhui
Weitere Informationen zum Film
Witwe vs. Gläubiger
Xueming sucht ihre Nähe, kann sich aber erst spät dazu durchringen, ihr seine Identität zu offenbaren. Da hat er bereits entdeckt, dass Frau Liang (Sylvia Chang) über den Tod ihres Mannes nicht besonders unglücklich ist – nicht nur, weil der Verstorbene bei zwielichtigen Partnern hoch verschuldet war. Als sich die Gläubiger bei ihr melden, wird klar, dass Xueming eine Situation zu retten versucht, die schon lange vor seinem Auftauchen ins Rutschen gekommen ist.
Offizieller Filmtrailer OmU
Normalo brodelt vor Wut
Xueming agiert in einer ödipalen Situation nicht wie Ödipus, sondern wie ein Parzival, der zwar nichts versteht, aber reinen Herzens weitermacht. Das hebt ihn ab von den Genre-Strickmustern des Film Noir, die zwar vielfach zitiert, aber auch immer wieder unterlaufen werden. Zum Beispiel gibt es keine Femme Fatale: Auch Frau Liang ist „nur“ eine ziemlich normale Person mittleren Alters.
Nicht Begehren, sondern Empathie treibt Xueming dazu, ihr zu helfen, mit dem Scherbenhaufen zurechtzukommen, den der getötete Gatte hinterlassen hat. Seine Figur ist dabei wenig sympathisch, kippt aber auch nie in die Karikatur eines windigen Verlierers. Obwohl ein unscheinbarer Typ, brodelt in ihm eine Wut, die er bisher nur in sinnlosen Straßenschlägereien kanalisieren konnte. Damit ist er für die Gewalt, die auf ihn zurollt, besser gewappnet als erwartet.
Zeitsprünge für neue Blickachsen
Der Normalo, der im Kampf gegen die Unterwelt über sich hinauswächst, ist nicht erst seit den Selbstjustiz-Filmen der 1980er Jahre ein gängiges Muster im US-Kino, dem deutlichsten Einfluss auf diesen chinesischen Autorenfilm. Darüber zitiert Regisseur Shipei Wen Stanley Kubricks Debütfilm “The Killer’s Kiss“ („Der Tiger von New York“, 1955) im Finale, und er greift auch auf Elemente von Alfred Hitchcock und Brian De Palma zurück.
Hintergrund
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Zurück in vordigitalen Alltag
Der wahre Patenonkel dieses Films aber ist Regisseur Wong Kar-Wai, speziell sein im Nachtleben Hongkongs angesiedelter Film „Chungking Express“ (1994). Angefangen beim eingefärbten Licht, wobei Shipei vor allem auf Grün, Violett und ein warmes Orange setzt.
Zu den weiteren Bezügen zählen der Rückfall in einen vordigitalen Alltag ohne Smartphones und Internet und der Einsatz eines nostalgischen Popsongs als Leitmotiv: Elvis Presleys evergreen „Are You Lonesome Tonight“ wird zum Thema der rechtschaffenen Hauptcharaktere und ist auch ein Hinweis auf ihre wahre Motivation.
Coverversion + Streichquartett
Dankenswerterweise kommt nicht das abgenudelte Original zum Einsatz, sondern die auf ihre Weise furchtbare Version eines lokalen Entertainers. Auf der übrigen Tonspur zieht ein virtuoses Streichquartett alle Register, um suspense hervorzurufen. So ist dieser Debütfilm ein Produkt vieler Einflüsse, die von Regisseur Shipei Wen aber selbstbewusst und stringent zu einer eigenen Erzählung gebündelt werden. Obwohl der Film eine gewisse Anlaufzeit braucht, entwickelt er spätestens nach zwanzig Minuten den nötigen Sog.