Shipei Wen

Are you lonesome tonight?

Xue Mings Freundin (Jiang Peiyao). Foto: Rapid Eye Movies
(Kinostart: 27.1.) Tote sind nicht einsam – Alleinsein ist ein Problem der Lebenden: In seinem stilsicher Neo-Noir-Thriller erzählt Regisseur Shipei Wen eine Schuld-und-Sühne-Fabel voller Bezüge auf klassische Vorbilder; von Alfred Hitchcock über Stanley Kubrick bis Wong Kar-Wei.

In gemessenem Schnitttempo und farbsatten Bildern erzählt Regisseur Shipei Wen eine klassische Geschichte von Schuld und Sühne. Sie beginnt im Gefängnis, wo der Verurteilte rekapituliert, wie er hierher gekommen ist.

 

Info

 

Are you lonesome tonight?

 

Regie: Shipei Wen,

95 Min., China 2021;

mit: Eddie Peng, Sylvia Chang, Wang Yanhui 

 

Weitere Informationen zum Film

 

Alles beginnt mit einer schicksalhaften Sommernacht 1997, in der der junge Xueming (Eddie Peng) mit seinem Mini-Van einen Mann überfährt. Zunächst will er helfen, doch als er feststellt, dass der Mann tot ist, gerät er in Panik und lässt die Leiche verschwinden. Doch sein schlechtes Gewissen führt ihn immer wieder an den Tatort zurück – und zur Witwe des Mannes.

 

Witwe vs. Gläubiger

 

Xueming sucht ihre Nähe, kann sich aber erst spät dazu durchringen, ihr seine Identität zu offenbaren. Da hat er bereits entdeckt, dass Frau Liang (Sylvia Chang) über den Tod ihres Mannes nicht besonders unglücklich ist – nicht nur, weil der Verstorbene bei zwielichtigen Partnern hoch verschuldet war. Als sich die Gläubiger bei ihr melden, wird klar, dass Xueming eine Situation zu retten versucht, die schon lange vor seinem Auftauchen ins Rutschen gekommen ist.

Offizieller Filmtrailer OmU


 

Normalo brodelt vor Wut

 

Xueming agiert in einer ödipalen Situation nicht wie Ödipus, sondern wie ein Parzival, der zwar nichts versteht, aber reinen Herzens weitermacht. Das hebt ihn ab von den Genre-Strickmustern des Film Noir, die zwar vielfach zitiert, aber auch immer wieder unterlaufen werden. Zum Beispiel gibt es keine Femme Fatale: Auch Frau Liang ist „nur“ eine ziemlich normale Person mittleren Alters.

 

Nicht Begehren, sondern Empathie treibt Xueming dazu, ihr zu helfen, mit dem Scherbenhaufen zurechtzukommen, den der getötete Gatte hinterlassen hat. Seine Figur ist dabei wenig sympathisch, kippt aber auch nie in die Karikatur eines windigen Verlierers. Obwohl ein unscheinbarer Typ, brodelt in ihm eine Wut, die er bisher nur in sinnlosen Straßenschlägereien kanalisieren konnte. Damit ist er für die Gewalt, die auf ihn zurollt, besser gewappnet als erwartet.

 

Zeitsprünge für neue Blickachsen

 

Der Normalo, der im Kampf gegen die Unterwelt über sich hinauswächst, ist nicht erst seit den Selbstjustiz-Filmen der 1980er Jahre ein gängiges Muster im US-Kino, dem deutlichsten Einfluss auf diesen chinesischen Autorenfilm. Darüber zitiert Regisseur Shipei Wen Stanley Kubricks Debütfilm “The Killer’s Kiss“  („Der Tiger von New York“, 1955) im Finale, und er greift auch auf Elemente von Alfred Hitchcock und Brian De Palma zurück.

 

Hintergrund

 

Lesen Sie hier eine Rezension des Films "See der wilden Gänse" - bildgewaltiger Neo-Noir-Thriller über Gangster-Abrechnung in China von Diao Yinan

 

und hier eine Besprechung des Films "Asche ist reines Weiß" - präzise Mafia-Beziehungs-Studie aus China von Jia Zhangke

 

und hier ein Beitrag über den Film "Bis dann, mein Sohn (So long, my son)" - brillant vielschichtige Familien-Doppelchronik in China seit 1980er Jahren von Wang Xiaoshuai

 

und hier ein Bericht über den Film "Feuerwerk am helllichten Tage – Black Coal, Thin Ice" – brillanter Neo-Noir-Krimi in Nordchina von Diao Yinan, Berlinale-Sieger 2014

 

Da für den Verlauf der Geschichte entscheidend ist, wer wie viel weiß und wer wann was gesehen haben konnte, springt die Handlung immer wieder in der Zeit zurück, um mit neuen Blickachsen zu verdeutlichen, wie die Figuren sich ihren Weg durch das Labyrinth der Zeichen bahnen. Kommissar Chen (Wang Yanhui), den der Fall obsessiv beschäftigt, der aber immer ein wenig zu spät auftaucht, zählt auch zum Personal.

 

Zurück in vordigitalen Alltag

 

Der wahre Patenonkel dieses Films aber ist Regisseur Wong Kar-Wai, speziell sein im Nachtleben Hongkongs angesiedelter Film „Chungking Express“  (1994). Angefangen beim eingefärbten Licht, wobei Shipei vor allem auf Grün, Violett und ein warmes Orange setzt.

 

Zu den weiteren Bezügen zählen der Rückfall in einen vordigitalen Alltag ohne Smartphones und Internet und der Einsatz eines nostalgischen Popsongs als Leitmotiv: Elvis Presleys evergreen „Are You Lonesome Tonight“ wird zum Thema der rechtschaffenen Hauptcharaktere und ist auch ein Hinweis auf ihre wahre Motivation.

 

Coverversion + Streichquartett

 

Dankenswerterweise kommt nicht das abgenudelte Original zum Einsatz, sondern die auf ihre Weise furchtbare Version eines lokalen Entertainers. Auf der übrigen Tonspur zieht ein virtuoses Streichquartett alle Register, um suspense hervorzurufen. So ist dieser Debütfilm ein Produkt vieler Einflüsse, die von Regisseur Shipei Wen aber selbstbewusst und stringent zu einer eigenen Erzählung gebündelt werden. Obwohl der Film eine gewisse Anlaufzeit braucht, entwickelt er spätestens nach zwanzig Minuten den nötigen Sog.