Damiano + Fabio D'Innocenzo

Bad Tales – Es war einmal ein Traum (Favolacce)

Vilma Tommasi (Ileana D'Ambra). Foto: © AngeloTuretta
(Kinostart: 6.1.) Grauen der Alltäglichkeit: Die Regie-Brüder D'Innocenzo porträtieren die Bewohner einer italienischen Vorort-Feriensiedlung. In diesem verstörenden Soziotop passiert bei Sommerhitze nicht viel – nur Demütigungen geben Rätsel auf.

Wer hat bloß die Kinder verhext? Ein vorpubertärer Junge verabredet sich mit einem Nachbarsmädchen zum ersten Sex. „Richtig Bock auf Bumsen“ habe er. Dabei wirkt er alles andere als neugierig; den Satz leiert er eher pflichtschuldig herunter. Eine Mutter rasiert ihrer Tochter den Kopf. Irgendwas hat das Kind getan, was den Eltern missfällt – was genau, erschließt sich nicht. Doch das Mädchen beschwert sich nicht. Sie trägt einfach fortan eine Perücke.

 

Info

 

Bad Tales – Es war einmal ein Traum (Favolacce)

 

Regie: Fabio + Damiano D'Innocenzo,

98 Min., Italien/Schweiz 2020;

mit: Elio Germano, Barbara Chichiarelli, Lino Musella

 

Weitere Informationen zum Film

 

Welcher böse Zauber über diesen Kindern liegt, warum sie ohne jede Gefühlsregung allerhand Verstörendes hinnehmen – diese Frage würde man sich vielleicht in einem Horror- oder ähnlichen Genrefilm stellen. In „Bad Tales – Es war einmal ein Traum“ scheint ihr Verhalten eine logische Konsequenz der Welt zu sein, die Damiano und Fabio D’Innocenzo entwerfen. Die Zwillingsbrüder führten Regie und schrieben das Skript für dieses zunächst faszinierende, am Ende aber enttäuschende Vorstadt-Drama.

 

Monströs verschobene Realität

 

Die D’Innocenzos lassen die Kamera agieren wie in einem Mystery-Film; überall könnte ein Geheimnis warten. Dadurch bekommt der Film eine unwirkliche Anmutung. Doch bei genauer Betrachtung steckt nichts Phantastisches darin. Eher ist es eine ins Monströse verschobene Wirklichkeit, die hier in präzise komponierte Breitwandbilder gefasst wird.

Offizieller Filmtrailer


 

Simulierte Geselligkeit + Familiensinn

 

Es sind Sommerferien, die Hitze sorgt für vordergründige Trägheit. Unter der Oberfläche aber brodelt es. Für einen Urlaub am Meer hat die Familie Placido kein Geld; deshalb stellt der arbeitslose Bruno (Elio Germano) einen Plastik-Pool im Garten auf. Den wird er bald wieder zerstechen – weil es ihn nervt, dass die Nachbarschaft zum Planschen vorbeikommt.

 

Die italienische Geselligkeit existiert in dieser Filmwelt nur als leere Hülse – ebenso wie der oft beschworene Familiensinn. Mit der Nachbarsfamilie Rosa wähnt man sich befreundet; trotzdem beäugt man einander misstrauisch. Überhaupt verbindet die Bewohner dieser sterilen Ferienhaus-Siedlung eigentlich nichts – außer, dass sie den ersehnten Aufstieg in ein gutbürgerliches Leben nicht schaffen werden.

 

Weniger als Eins Plus zählt nicht

 

Pietro Rosa (Max Malatesta) arbeitet als Produktentwickler für Hygieneartikel, was ihn offenbar langweilt – obwohl er sich nach eigenen Worten gerne von Apple-Gründer Steve Jobs inspirieren lässt, dessen Biographie er gerade liest.  So müssen eben die Kinder für Glanz sorgen, wenn die Nachbarn zu Gast sind, indem sie ihre Schulzeugnisse vorlesen. Dass darin in fast jedem Fach Eins Plus steht, gilt offenbar als selbstverständlich; die einzige Eins ohne Plus sorgt für eine brutale Demütigung. Auch die nehmen die Kinder regungslos hin.

 

Beinahe wie eine Lichtgestalt wirkt in diesem Umfeld der allein erziehende Amelio (Gabriel Montesi), der mit seinem Sohn Geremia (Justin Korovkin) in einem Wohnwagen am Rand der Siedlung lebt. Wenigstens bemüht er sich, wenn auch auf schräge Weise, eine Beziehung zu seinem Sohn aufzubauen, der von seinen Mitschülern gemobbt wird.

 

Kinder wollen Bomben platzen lassen

 

In dieses verstörende Soziotop führt das Publikum ein unbekannter Erzähler mit sonorer Stimme ein. Er will das Tagebuch eines jungen Mädchen gefunden haben; bezeichnenderweise im Müll. Was darin steht, interessiere ihn vor allem wegen des Ungesagten, das mitschwingt, sagt er: Da ihre Aufzeichnungen abrupt endeten, habe er das Geschilderte weitergesponnen. Als „eine wahre Geschichte, die auf einer Lüge basiert“, charakterisiert dieser unzuverlässige Erzähler das Ergebnis.

 

Als Zuschauer wünscht man sich bald nur, dass in diesem grotesken Panorama eine sprichwörtliche Bombe platzen solle. Daran basteln einige der Kinder tatsächlich, nachdem ihnen ihr Chemie-Lehrer das nötige Know-How mitgegeben hat. Allerdings werden die Bomben beizeiten entdeckt und von Experten entschärft.

 

Es gibt nichts, wofür zu leben lohnt

 

Hintergrund

 

Lesen Sie hier eine Rezension des Films "Die Mafia ist auch nicht mehr das, was sie mal war" – skurrile Doku über Trash-Italien von Franco Maresco

 

und hier eine Besprechung des Films "Suburbicon" - süffisante Demontage der US-Vorstadtidylle in den 1950er Jahren von George Clooney mit Matt Damon

 

und hier einen Beitrag über den Film "Die süße Gier – Il Capitale Umano" - italienisches Familien-Drama von Paolo Virzì

 

und hier ein Bericht über den Film "Amerikanisches Idyll" - kongeniale Verfilmung des Romans von Philip Roth durch Ewan McGregor.

 

Abgründe des Vorstadtlebens werden auf der großen Leinwand regelmäßig thematisiert: Manche Meilensteine des US-Arthouse-Kinos, etwa David Lynchs „Blue Velvet“ (1986), Todd Solondz’ „Happiness“ (1998) oder auch Sam Mendes’ „American Beauty“ (1999), warfen erhellende Blicke hinter gepflegte Fassaden. Doch selten fiel das so deprimierend aus wie in diesem Drama. Ihm fehlt es an jeder Ambivalenz; diese unbarmherzige Bestandsaufnahme erinnert an abgründigere Filme des Österreichers Ulrich Seidl.

 

Die Zielrichtung der D’Innocenzo-Brüder erschließt sich nicht. Zudem fehlt ihrer hermetischen Erzählung die Dynamik: Soll die Moral ihrer Geschichte etwa sein, dass die Kinder ihren Eltern eines voraus haben – nämlich das Wissen, dass es nichts gibt, wofür es sich zu leben lohnt? Jedenfalls kann keine der Figuren verhindern, dass die vorgeführte Teilnahmslosigkeit auch den Zuschauer ergreift.

 

Ausgerechnet Drehbuch prämiert

 

Damit entfaltet sich das Potenzial, das in diesem Szenario steckt, nur ansatzweise. Umso erstaunlicher ist, dass dieser sorgfältig stilisiert inszenierte, aber recht eindimensionale Stoff auf der Berlinale 2020 ausgerechnet den Silbernen Bären für das beste Drehbuch bekam.