Selten widersprach ein Titel derart dem Inhalt eines Films: „Charlatan“ zeigt zwei Stunden lang anschaulich und schlüssig, dass sein Held alles andere als ein Scharlatan war. Sondern ein Mensch mit sehr spezieller Begabung und Berufung; ihm ging es vor allem darum, die Leiden seiner Mitmenschen zu lindern. Wobei dem Wohltäter keineswegs die Herzen zuflogen – er war ein verschlossener Eigenbrötler, nicht frei von Dünkel und Starrsinn.
Info
Charlatan
Regie: Agnieszka Holland,
118 Min., Tschechien/ Slowakei/ Polen 2020;
mit: Ivan Trojan, Josef Trojan, Juraj Loj
Weitere Informationen zum Film
Hitlers Sekretär + KP-Präsident als Patienten
Im Lauf der Jahrzehnte seien mehrere Millionen Menschen von Mikolášek behandelt worden, behauptet der Film im Abspann. Darunter waren zahlreiche hochrangige Persönlichkeiten: Künstler, Wissenschaftler und Würdenträger – auch der beiden diktatorischen Regime, die über die Tschechoslowakei in diesem Zeitraum herrschten. Hitlers Sekretär Martin Bormann nahm seine Dienste ebenso in Anspruch wie der zweite kommunistische Präsident der ČSSR, Antonín Zápotocký. Durch solche Protektion fühlte sich der Heiler unantastbar; das wurde ihm zum Verhängnis.
Offizieller Filmtrailer
Schwestern-Bein vor Amputation bewahrt
Die Rahmenhandlung schildert, wie Mikolášek (Ivan Trojan) 1958 verhaftet und vor Gericht gestellt wird. Er soll zwei KP-Funktionäre umgebracht haben, indem er ihnen vergiftete Kräuterpackungen zuschickte; ihm droht die Todesstrafe. Die Anklage ist fingiert; tatsächlich gerät Mikolášek ins Visier der Stalinisten, weil er sich gegen die Verstaatlichung seines Sanatoriums wehrt. Außerdem vermutet man bei ihm ein großes Vermögen.
Zwischen Szenen von Haft und Schauprozess wird sein Lebensweg in Rückblenden entfaltet. Dass er als Soldat im Ersten Weltkrieg einen Kameraden hinrichten muss, traumatisiert den Gärtnersohn (Josef Trojan). Als er mit Kräuterpasten das entzündete Bein seiner Schwester vor der Amputation bewahrt, wird ihm seine Gabe bewusst – ihr zuliebe bricht er mit seinem Elternhaus. Eine populäre Naturheilkundlerin nimmt ihn als Lehrling auf. Sie bringt ihm die Kunst bei, Urinproben zu deuten, und legt ihm tiefe Frömmigkeit nahe.
Liebesbeziehung zum Assistenten
Jahre später hat sich Mikolášek in Jenštein niedergelassen und baut ein altes Herrenhaus zum Sanatorium aus. Als Assistenten engagiert er František Palko (Juraj Loj). Der junge Mann ist völlig loyal und sehr attraktiv – es dauert nicht lange bis zum ersten Kuss. Dass er verheiratet ist, stört seinen Chef; er versucht, Palko mit Wochenendausflügen im Auto von seiner Frau fern zu halten. Ob beide wirklich eine schwule Liebesbeziehung verband, lässt sich nicht belegen; jedenfalls wird sie im Film für osteuropäische Verhältnisse recht explizit ausgemalt.
Bei aller Innigkeit geht es nicht konfliktfrei zu. Der monomanische Mikolášek verlangt von allen Mitarbeitern aufopferungsvolle Hingabe an seine Mission. Er arbeitet ohne Unterlass; sobald Patienten ausbleiben, weiß er nichts mit sich anzufangen. Obwohl er nie seine Kompetenzen überschreitet und etwa Krebskranke zu regulären Medizinern schickt, ist er sehr stolz auf seine besonderen Fähigkeiten. Zumal er damit sowohl Nazi- als auch KP-Größen beeindrucken – und dadurch lange seinen Kopf aus der Schlinge ziehen kann.
Gehemmt-getriebener Selfmademan
Hintergrund
Lesen Sie hier eine Rezension des Films "Die Spur (Pokot)" - originell-kühner Tierschutz-Thriller aus Polen von Agnieszka Holland, prämiert mit Silbernem Bären 2017
und hier eine Besprechung des Films "Fantastische Pilze" – informative Doku über die "magische Welt zu unseren Füßen" von Louie Schwartzberg
und hier einen Bericht über die Ausstellung "Kallawaya - Heilkunst in den Anden" über traditionelle Indio-Wanderheiler in Bolivien im Grassi Museum für Völkerkunde, Leipzig
und hier einen Beitrag über den Film "Das Fieber – Der Kampf gegen Malaria" - zwiespältige Doku über Kräutermedizin gegen die Tropenkrankheit von Katharina Weingartner.
Auch Regisseurin Agnieszka Holland, die große alte Dame des polnischen Kinos, glorifiziert Mikolášek und seine Heilkunst keineswegs. Stattdessen macht sie durch ausgefeilte Kamera-Perspektiven, Lichtsetzung und Filter die monotone Enge im Sanatorium und das Erleben seines Leiters deutlich: Bei Landpartien mit Palko erblüht die Welt in satten Farben, beim Alltag mit Patienten wird sie stumpfbraun – und entsättigt blaugrau, wenn NS- oder KP-Schergen das Ruder übernehmen.
In Armut verstorben
Wobei der Film etwas dramatisiert: Den realen Jan Mikolášek klagte man 1959 nicht wegen Mordes, sondern wegen Steuervergehen an. Nach vier Jahren Gefängnis wurde er entlassen, praktizierte aber nicht mehr als Heiler und starb verarmt 1973. Seine Kenntnisse scheint er nur zum Teil weitergegeben zu haben; an ihren Wert zu erinnern, ist Holland ein Anliegen. Zurecht: Unzählige Arzneimittel basieren auf Wirkstoffen aus Kräutern und anderen Pflanzen.