Agnieszka Holland

Charlatan

Der Heiler Jan Mikolášek (Ivan Trojan) betrachtet eine Urinprobe, beobachtet von seinem Assistenten František Palko (Juraj Loj). Foto: Cinemien Filmverleih
(Kinostart: 20.1.) Männer, die auf Urinproben starren: Das Leben des tschechischen Kräuterheilers Jan Mikolášek verfilmt Regisseurin Agnieszka Holland als vielschichtiges Psychogramm eines schwulen Nonkonformisten, der in zwei Diktaturen verfolgt wurde.

Selten widersprach ein Titel derart dem Inhalt eines Films: „Charlatan“ zeigt zwei Stunden lang anschaulich und schlüssig, dass sein Held alles andere als ein Scharlatan war. Sondern ein Mensch mit sehr spezieller Begabung und Berufung; ihm ging es vor allem darum, die Leiden seiner Mitmenschen zu lindern. Wobei dem Wohltäter keineswegs die Herzen zuflogen – er war ein verschlossener Eigenbrötler, nicht frei von Dünkel und Starrsinn.

 

Info

 

Charlatan

 

Regie: Agnieszka Holland,

118 Min., Tschechien/ Slowakei/ Polen 2020;

mit: Ivan Trojan, Josef Trojan, Juraj Loj

 

Weitere Informationen zum Film

 

Der historische Jan Mikolášek (1889-1973) war ein Phänomen der Zwischenkriegszeit. Er betrachtete Urinproben seiner Patienten im Gegenlicht und schloss aus Farben und Inhaltsstoffen auf Krankheiten oder Fehlfunktionen von Organen. Dagegen verordnete er Kräutermischungen – manchmal auch nur Diät, Aufenthalte in der Sonne oder an der See. Das wirkte: Vor seinem Privat-Sanatorium im Dorf Jenštein nahe Prag warteten täglich Dutzende von Hilfesuchenden, außerdem wurden ihm zahllose Urinproben zugeschickt.

 

Hitlers Sekretär + KP-Präsident als Patienten

 

Im Lauf der Jahrzehnte seien mehrere Millionen Menschen von Mikolášek behandelt worden, behauptet der Film im Abspann. Darunter waren zahlreiche hochrangige Persönlichkeiten: Künstler, Wissenschaftler und Würdenträger – auch der beiden diktatorischen Regime, die über die Tschechoslowakei in diesem Zeitraum herrschten. Hitlers Sekretär Martin Bormann nahm seine Dienste ebenso in Anspruch wie der zweite kommunistische Präsident der ČSSR, Antonín Zápotocký. Durch solche Protektion fühlte sich der Heiler unantastbar; das wurde ihm zum Verhängnis.

Offizieller Filmtrailer


 

Schwestern-Bein vor Amputation bewahrt

 

Die Rahmenhandlung schildert, wie Mikolášek (Ivan Trojan) 1958 verhaftet und vor Gericht gestellt wird. Er soll zwei KP-Funktionäre umgebracht haben, indem er ihnen vergiftete Kräuterpackungen zuschickte; ihm droht die Todesstrafe. Die Anklage ist fingiert; tatsächlich gerät Mikolášek ins Visier der Stalinisten, weil er sich gegen die Verstaatlichung seines Sanatoriums wehrt. Außerdem vermutet man bei ihm ein großes Vermögen.

 

Zwischen Szenen von Haft und Schauprozess wird sein Lebensweg in Rückblenden entfaltet. Dass er als Soldat im Ersten Weltkrieg einen Kameraden hinrichten muss, traumatisiert den Gärtnersohn (Josef Trojan). Als er mit Kräuterpasten das entzündete Bein seiner Schwester vor der Amputation bewahrt, wird ihm seine Gabe bewusst – ihr zuliebe bricht er mit seinem Elternhaus. Eine populäre Naturheilkundlerin nimmt ihn als Lehrling auf. Sie bringt ihm die Kunst bei, Urinproben zu deuten, und legt ihm tiefe Frömmigkeit nahe.

 

Liebesbeziehung zum Assistenten

 

Jahre später hat sich Mikolášek in Jenštein niedergelassen und baut ein altes Herrenhaus zum Sanatorium aus. Als Assistenten engagiert er František Palko (Juraj Loj). Der junge Mann ist völlig loyal und sehr attraktiv – es dauert nicht lange bis zum ersten Kuss. Dass er verheiratet ist, stört seinen Chef; er versucht, Palko mit Wochenendausflügen im Auto von seiner Frau fern zu halten. Ob beide wirklich eine schwule Liebesbeziehung verband, lässt sich nicht belegen; jedenfalls wird sie im Film für osteuropäische Verhältnisse recht explizit ausgemalt.

 

Bei aller Innigkeit geht es nicht konfliktfrei zu. Der monomanische Mikolášek verlangt von allen Mitarbeitern aufopferungsvolle Hingabe an seine Mission. Er arbeitet ohne Unterlass; sobald Patienten ausbleiben, weiß er nichts mit sich anzufangen. Obwohl er nie seine Kompetenzen überschreitet und etwa Krebskranke zu regulären Medizinern schickt, ist er sehr stolz auf seine besonderen Fähigkeiten. Zumal er damit sowohl Nazi- als auch KP-Größen beeindrucken – und dadurch lange seinen Kopf aus der Schlinge ziehen kann.

 

Gehemmt-getriebener Selfmademan

 

Hintergrund

 

Lesen Sie hier eine Rezension des Films "Die Spur (Pokot)" - originell-kühner Tierschutz-Thriller aus Polen von Agnieszka Holland, prämiert mit Silbernem Bären 2017

 

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und hier einen Bericht über die Ausstellung "Kallawaya - Heilkunst in den Anden" über traditionelle Indio-Wanderheiler in Bolivien im Grassi Museum für Völkerkunde, Leipzig

 

und hier einen Beitrag über den Film "Das Fieber – Der Kampf gegen Malaria" - zwiespältige Doku über Kräutermedizin gegen die Tropenkrankheit von Katharina Weingartner.

 

Trotz seines Erfolgs wirkt der Selfmademan wie ein Getriebener; mit seinem botanischen Wissen, Gottesglauben und asketischen Lebensstil scheint er tief empfundene Sündhaftigkeit büßen zu wollen. Die Ambivalenz seines Charakters streicht Ivan Trojan eindrucksvoll heraus, indem er ihn verkniffen und gehemmt verkörpert: ein Ausnahmetalent, gefangen in sich selbst. Obwohl Juraj Loj als unbekümmerter und lebenslustiger Adlatus alles tut, um seine Sorgen zu verscheuchen – und ihm im Strafprozess einen letzten Liebesdienst erweist.

 

Auch Regisseurin Agnieszka Holland, die große alte Dame des polnischen Kinos, glorifiziert Mikolášek und seine Heilkunst keineswegs. Stattdessen macht sie durch ausgefeilte Kamera-Perspektiven, Lichtsetzung und Filter die monotone Enge im Sanatorium und das Erleben seines Leiters deutlich: Bei Landpartien mit Palko erblüht die Welt in satten Farben, beim Alltag mit Patienten wird sie stumpfbraun – und entsättigt blaugrau, wenn NS- oder KP-Schergen das Ruder übernehmen.

 

In Armut verstorben

 

Wobei der Film etwas dramatisiert: Den realen Jan Mikolášek klagte man 1959 nicht wegen Mordes, sondern wegen Steuervergehen an. Nach vier Jahren Gefängnis wurde er entlassen, praktizierte aber nicht mehr als Heiler und starb verarmt 1973. Seine Kenntnisse scheint er nur zum Teil weitergegeben zu haben; an ihren Wert zu erinnern, ist Holland ein Anliegen. Zurecht: Unzählige Arzneimittel basieren auf Wirkstoffen aus Kräutern und anderen Pflanzen.