
Mrs. Thyberg, Sie haben bereits 2013 die kurze Doku „Pleasure“ über die Pornoindustrie gedreht, nun ein gleichnamiges Dokudrama. Was interessiert Sie an dieser Branche?
Thyberg: Anfangs interessierte mich nicht die Branche, sondern das Produkt. Als ich 16 Jahre alt war, zeigte mir mein Freund einen Porno. Ich war schockiert von der Brutalität und männlichen Dominanz, denn meine Vorstellungen von Sex waren sehr rosarot. Dann engagierte ich mich jahrelang in feministischen Anti-Porno-Initiativen; wir warfen Steine gegen die Fassaden von Sex-Clubs und besprühten sie mit Farbe. Bei einer Aktion nahm mich die Polizei sogar fest. Ich war sehr radikal und sah Pornos nur als Instrument männlicher Unterdrückung.
Fünf Jahre Recherche in L.A.
Wann und wie haben sich ihre Auffassungen geändert?
Info
Pleasure
Regie: Ninja Thyberg,
109 Min., Schweden/ Niederlande/ Frankreich 2021;
mit: Sofia Kappel, Evelyn Claire, Dana DeArmond
Weitere Informationen zum Film
Inzwischen interessierte ich mich mehr für die Porno-Branche – vor allem die abseits des Mainstream. So nahm ich 2013 am „Porn Film Festival“ in Berlin teil. 2014 recherchiere ich erstmals in Los Angeles; fünf Jahre lang war ich immer wieder dort, um die Branche von innen heraus zu verstehen.
Offizieller Filmtrailer
Pornos als totgeschwiegenes Tabu
Mrs. Kappel, was dachten Sie, als sie das Drehbuch zum ersten Mal lasen?
Kappel: Mir war sofort klar: Das ist ein wichtiger Film. Im Mittelpunkt steht nicht die Ausbeutung von Frauen, sondern wie es in der Pornoindustrie tatsächlich zugeht – was nur wenige Leute wissen. Das mochte ich von Anfang an. Statt des Themas machte mich viel eher nervös, wie ich in diesem Film agieren würde.
Was war an der Rolle von Linnéa alias Bella für Sie attraktiv?
Kappel: Sie gab mir die Chance, etwas zu tun, von dem ich vorher glaubte, dass ich nicht dazu fähig wäre. Außerdem spielt Pornographie eine wichtige Rolle in unserer Gesellschaft und unseren intimen Beziehungen – aber man spricht nie darüber. Deshalb betrifft unser Film nicht nur die Beschäftigten in der Sexindustrie, sondern die Leute allgemein.
Sie sollten sich fragen, auf welche Weise Pornos konsumiert und diejenigen betrachtet werden, die sie machen; schließlich stellen sie genau das her, was die Kundschaft nachfragt. Gäbe es kein Publikum für rassistisches und frauenfeindliches Zeug, würde es auch nicht mehr produziert; in diesem Sinne betrachtet der Film nicht nur die Pornoindustrie, sondern auch die Gesellschaft insgesamt.
Für Geld, Ruhm oder schräge Fantasien
Im Film antwortet Bella auf die Frage, warum sie Pornos drehen will: Erstens wolle sie rumvögeln, zweitens der Provinzialität in Schweden entfliehen. Das klingt seltsam. Was motiviert aus Ihrer Sicht Ihre Figur?
Kappel: Das ist eine problematische Frage; sie spielt im Film auch keine Rolle. Ginge es um eine Frau an der Supermarktkasse, würde auch niemand fragen: Warum arbeitet sie da? Auf die Frage, wieso jemand Pornos dreht, gibt es wohl ebenso viele Antworten wie Mitwirkende – aber keine eindeutige. Die meisten wurden weder missbraucht noch sind sie traumatisiert, sondern sie wollen einfach den Job: für Geld, Ruhm, Aufmerksamkeit, oder um schräge sexuelle Fantasien auszuleben. Deshalb habe ich über Bellas Motivation nicht lange nachgedacht.
Opfer wird zur Dildo-Täterin
Am Ende entschuldigt sich Bella bei ihrer Dreh-Partnerin Joy, die sie als Rivalin empfindet, und steigt aus der Escort-Limousine aus – und damit aus der ganzen Branche?
Kappel: Es ist eher ein offenes Ende. Nach meinem Verständnis verlässt sie nicht die Branche, sondern wählt einen anderen Umgang mit ihr: Im Porno-Dreh mit Joy ist Bella nicht mehr ein unterdrücktes Opfer, sondern wird selbst zur Täterin, die mit dem Dildo eine andere Frau misshandelt. Offenbar bringt dieser Tropfen das Fass zum Überlaufen. Nach den Erfahrungen, die sie gemacht hat, fragt Bella sich, was ihr wichtiger ist: Karriere oder ihre Beziehungen zu anderen Menschen? Vielleicht will sie ihre eigene Produktionsfirma gründen?
Freundin fliegt zur Vergewaltigung ein
In einer Szene simulieren drei Männer eine Vergewaltigung von Bella. Waren diese Aufnahmen besonders anstrengend und schwierig?
Kappel: Für mich als Debütantin war alles anstrengend, aber bei dieser Szene hatte ich mit den meisten Spaß. Wir haben sie mehrere Monate lang geprobt, denn sie war technisch sehr anspruchsvoll. Wie eine Choreographie; ein Tanz, bei dem sehr viele kurze Einstellungen gedreht werden. Vieles sieht brutaler aus, als es tatsächlich war.
So habe ich, als ich gewürgt wurde, meinen Körper angespannt, damit mir das Blut ins Gesicht schießt. Schwieriger war für mich, die geforderte Verletzlichkeit zu zeigen, aber es gab viele Vorsichtsmaßnahmen. Für diese Szene wurde sogar meine beste Freundin aus Schweden eingeflogen, damit sie mir beistehen konnte.
Am schlimmsten sind Arbeitsumstände
Was ist aus Ihrer Sicht der unangenehmste Aspekt der Pornoindustrie: die Langeweile beim Warten auf das nächste Engagement oder die Demütigungen am Set und außerhalb?
Kappel: Das ist eine schwierige Frage. In jedem Job gibt es Phasen, die langweilen, ob man dabei oder danach kopuliert oder nicht. Demütigungen sind letztlich durch ungleiche Machtverhältnissen bedingt: Darsteller werden nur einmal bezahlt, dagegen können die Produktionsfirmen mit einem Film sehr viel Geld verdienen. Am schlimmsten sind wohl die schlechten Arbeitsbedingungen – nicht überall, aber doch bei vielen Produktionen.
Zu allem fähige, knallharte Typen
Hintergrund
Lesen Sie hier eine Rezension des Films "Pleasure" von Ninja Thyberg
und hier eine Besprechung des Films "Bad Luck Banging or Loony Porn" - Sittendrama über Privatporno in Rumänien von Radu Jude, prämiert mit Goldenem Bären 2021
und hier einen Artikel über den Film "Messer im Herz" - schräger Krimi über Morde im Schwulenporno-Milieu von Yann Gonzalez
und hier einen Beitrag über den Film "Sexarbeiterin" - Doku-Porträt einer Erotik-Masseurin von Sobo Swobodnik
und hier einen Bericht über den Film "Nina Wu" - stilsicher inszenierter Psychothriller über Filmindustrie-Sexismus von Midi Z
und hier eine Kritik des Films "Antiporno" – wüste Farborgie als ätzende Parodie auf Japans "Pink Movie"-Branche von Sion Sono.
Thyberg: Am meisten hat mich beeindruckt, dass die Frauen in der Branche nicht schwach sind, sondern stark. Auch physisch: Sie sind keine gebrochenen Gestalten, sondern trainieren in Fitness-Studios, um ihre Muskulatur aufbauen; als eine Art Sex-Athleten. Natürlich haben sie mit patriarchalischen Strukturen zu tun, denn die Branche wird von Männern dominiert. Aber das macht sie widerstandsfähig.
Es verhält sich wie bei Kampfsportarten: Man bemitleidet die Kämpfer nicht, weil sie zusammengeschlagen werden, denn sie haben sich dafür entschieden. Stattdessen bewundert man diese knallharten Typen, die zu Dingen fähig sind, die man selbst nie tun könnte.
Rollenspiel in zynischem System
Meine frühere feministische Haltung war in gewisser Weise bevormundend: Die armen Frauen sind Opfer, die gerettet werden müssen! Inzwischen bin ich schlicht verblüfft, mit wie viel Mist sie zurecht kommen. Unser Film zeigt die dunklen und tragischen Aspekte dieser Branche, aber es gibt dort auch eine Menge menschlicher Wärme und Humor.
Pornos zeigen Dominanz und Gewalt, weil die Regisseure davon ausgehen, dass das Publikum danach verlangt. Sie sehen sich als Dienstleister, die perverse Fantasien bedienen. In diesem zynischen System spielt jeder seine Rolle, ohne sich mit dem System zu identifizieren oder es zu verteidigen.