Noomi Rapace

Lamb

Maria (Noomi Rapace) will in der isländischen Einöde das Wesen wie ihr eigenes Kind aufziehen. Foto: Koch Films
(Kinostart: 6.1.) Wenn der Nachwuchs wollig ausfällt: Ein Züchterpaar auf Island adoptiert ein Zwitterwesen. Diese bizarre Prämisse baut Regisseur Valdimar Jóhannsson zur Studie über den Mikrokosmos Kleinfamilie aus − mit der brillanten Noomi Rapace als Mutter.

„Mary had a little lamb“: So beginnt das gleichnamige Kindergedicht, das der Erfinder Thomas Alva Edison als erste Tonaufnahme mit seinem Phonographen aufzeichnete. Es darf auch als extrem verkürzte Inhaltsangabe des Debütfilms gelten, den der isländische Regisseur Valdimar Jóhannsson gedreht hat. Das Filmplakat zeigt Noomi Rapace, die ein Lamm in den Armen hält; eine Anspielung auf Marienstatuen, bei denen das Lamm allegorisch für Reinheit und die Selbstopferung Christi steht.

 

Info

 

Lamb

 

Regie: Valdimar Jóhannsson,

106 Min., Island 2021;

mit: Noomi Rapace, Hilmi Snær Guðnason, Björn Hlynur Haraldsson

 

Website zum Film

 

Tatsächlich heißt die von Rapace gespielte Hauptfigur Maria. Sie lebt mit ihrem Mann Ingvar (Hilmi Snær Guðnason) auf einer abgelegenen isländischen Farm; beide züchten Schafe. Der Film beginnt mit dem Alltag der wortkargen Eheleute, aber unter den Bildern von schweigender Plackerei dräuen Trauer und Unheil: Jemand oder etwas, so suggeriert die Kamera, beobachtet schwer atmend von außen das Geschehen auf der Farm.

 

Herde scheut vor verlorenem Schaf

 

Als eines Nachts ein verlorenes Schaf völlig erschöpft in den Stall zurückkehrt, weicht die Herde ängstlich vor ihm zurück. Was geht vor auf der Farm von Ingvar und Maria? Regisseur Jóhannsson baut gemächlich Spannung auf, bis besagtes Schaf Monate später ein Lämmchen wirft. Maria ist hingerissen von diesem Neugeborenen; das hat, wie sich ebenfalls nur Stück für Stück enthüllt, einen bizarren Grund.

Offizieller Filmtrailer


 

Tod der trauernden Schafsmutter

 

Das Lamm ist eine Chimäre: nur Kopf und Arm sind diejenigen eines Schafs, der übrige Körper ähnelt dem eines Menschenkinds. In fast wortlosem Einverständnis akzeptieren Maria und Ingvar das Unglaubliche. Auch wenn Ingvar heimlich das kalte Grauen packt: Es kehrt dadurch etwas Freude auf dem Hof ein.

 

Als Jahre später Ingvars nichtsnutziger Bruder Pétur auftaucht, spricht er aus, was im Publikum alle denken. Doch Maria lässt sich von Péturs Übergriffigkeit nicht von ihrer Überzeugung abbringen: Dies ist ihr Kind. Die trauernde Schafsmutter wird kurzerhand zur Strecke gebracht. Damit überschreitet Maria eine Grenze, die ihr Glück am Ende zerstören wird.

 

Unheimlicherweise nicht unheimlich

 

Das Drehbuch dieser bizarren Fabel stammt vom Regisseur selbst; er hat es gemeinsam mit dem Wortkünstler Sjón verfasst, der u.a. Texte für Islands Pop-Königin Björk geschrieben hat. Mit vielen Andeutungen und Auslassungen beschwören sie in der Handlung die vorchristlichen Mythen der isländischen Wildnis herauf, die sich auf der nordischen Insel recht getreu erhalten haben. Sie liefern den Kontrapunkt zur christlichen Symbolik, die mit Maria verbunden ist.

 

Doch allzu genau lässt sich dieser Film nicht aufschlüsseln, zumal er sich auf die Konstruktion des schrägen Mikrokosmos’ Kernfamilie konzentriert. Ein stets wolkenschwerer Himmel und die direkt ins Unterbewusstsein fließende Musik von Þórarinn Guðnason sorgen für durchgängiges Nervenfrösteln. Die Bruchstelle in diesem Balanceakt ist das Schafskind selbst, das unheimlicherweise gar nicht unheimlich aussieht.

 

Wie Disneyfilm außer Kontrolle

 

Hintergrund

 

Lesen Sie hier eine Rezension des Films "Milchkrieg in Dalsmynni" − ambitionierter Agrar-Krimi aus Island von Grímur Hákonarson

 

und hier eine Besprechung des Films "Shape of Water − Das Flüstern des Wassers" − fantasievolle Fantasy-Fabel über Fisch-Menschen von Guillermo del Toro, mit Goldenem Löwen 2018 prämiert

 

und hier ein Bericht über den Film "Shaun das Schaf − Der Film" − wunderbar anarchischer Animationsfilm von Mark Burton + Richard Starzak.

 

und hier einen Beitrag über den Film "Babycall" − norwegischer Psychothriller über überforderte Mutter von Pål Sletaune mit Noomi Rapace.

Im Gegenteil: Dank Kindchenschema und behutsamer CGI erscheint es ganz ansehnlich. Sobald dieses Wesen aber das Kleinkindalter erreicht hat, wirken die Familienszenen wie ein Disneyfilm, der alptraumartig außer Kontrolle geraten ist. Vielleicht rächt sich hier krauser isländischer Humor auf subtile Weise am anthropomorphen Niedlichkeitswahn der großen Trickfilmstudios?

 

Eine der grusligeren Szenen mag viele an den Thriller „Das Schweigen der Lämmer“ (1991) von Jonathan Demme erinnern; viele andere jedoch eher an die drollige Herde aus der TV-Kinderserie „Shaun das Schaf“. Davon abgesehen ist „Lamb“ ein beachtliches Erstlingswerk, als minimalistische Studie über die Wirkmacht von Filmbildern.

 

Noomi Rapace spricht Isländisch

 

Die Dialoge sind bewusst knapp gehalten; Blicke und sparsam gesetzte filmische Zeichen treiben die Erzählung voran. Und die Schwedin Noomi Rapace ist nicht nur dafür zu bewundern, dass sie ihren Part erstmals in der Sprache des Landes bestreitet, in dem sie ihre Kindheit verbrachte: Im Alter von fünf Jahren zog sie mit ihrer Mutter auf die Insel. Mit der Darstellung einer rational kaum nachvollziehbaren Situation zeigt sie auch eine der besten Leistungen ihrer Karriere.