Frankfurt am Main

Paula Modersohn-Becker

Paula Modersohn-Becker: Mädchenakt mit Blumenvasen, 1906/1907, Öltempera auf Leinwand, 47,5 x 52 cm, Von der Heydt-Museum, Wuppertal. © Von der Heydt Museum Wuppertal
Märtyrerin der Moderne: So jung Paula Modersohn-Becker starb, so früh wurde sie kultisch verehrt – ihren Fans gilt jedes ihrer Bilder als genial. In der Werkschau der Schirn Kunsthalle entpuppt sich die vermeintliche Vorläuferin des Expressionismus als ideale Projektionsfläche.

Paula Modersohn-Becker (1876-1907) ist ein Phänomen. Während die männlichen Mitglieder der Worpsweder Malerkolonie – also ihr Gatte Otto Modersohn, Fritz Mackensen, Hans am Ende, Carl Vinnen und Heinrich Vogeler – heute allenfalls regionale Bekanntheit genießen, erstrahlt ihr Ruhm über alle Kontinente. Zahlreiche Museen besitzen und zeigen ihre Werke; sie gilt als einzigartige Vorläuferin des Expressionismus, als singuläres Original-Genie auf einer Stufe mit anderen großen Einzelgängern wie Cézanne, Gauguin oder Van Gogh.

 

Info

 

Paula Modersohn-Becker

 

08.10.2021 - 06.02.2022

täglich außer montags

10 bis 19 Uhr,

mittwochs + donnerstags bis 22 Uhr

in der Schirn Kunsthalle, Römerberg, Frankfurt am Main

 

Katalog 35 €
Begleitheft, 7,50 €

 

Weitere Informationen

 

Worin gründet diese Hochschätzung? Zumal sie nicht ungeteilt ist: Der Fraktion ihrer glühenden Verehrer stehen etliche Kunstfreunde gegenüber, die mit ihren Bildern wenig bis nichts anfangen können. Die große Retrospektive in der Schirn mit rund 110 Exponaten erlaubt nun, sämtliche Aspekte ihres Werks in den Blick zu nehmen – um so das Mysterium ihrer Popularität zu entschlüsseln.

 

Kindersegen als Problem

 

Eine entscheidende Rolle spielt zweifellos ihr früher Tod. Sie starb mit nur 31 Jahren, 18 Tage nach der Geburt ihres einzigen Kindes – wobei Nachkommen in ihrer Ehe mit Otto Modersohn stets ein problematisches Thema gewesen waren. Obwohl sie rund 400 Gemälde von Kindern hinterlassen hat, mehr als jeder andere Künstler der Epoche. Und zugleich so viele Mutter-Kind-Bilder schuf, dass sie einen eigenen Werkkomplex bilden. Dabei sind die meisten herb und eigenwillig; von niedlicher Idylle oder süßlichem Elternglück keine Spur.

Feature zur Ausstellung; © Schirn Kunsthalle


 

Nazis schlossen ihr Museum nicht

 

Ihre ständige, höchst ambivalente Auseinandersetzung mit Fortpflanzung und Mutterrolle ließ sich nahtlos mit christlicher Ikonographie verbinden. Die meisten Märtyrerinnen der Kirchengeschichte waren jung, und weibliche Schöpferkraft wurde um 1900 nicht mehr nur biologisch, sondern zunehmend auch künstlerisch aufgefasst: Neues in die Welt zu setzen, war ein Wert an sich.

 

Federführend wurde Gustav Pauli, Direktor der Bremer Kunsthalle: Direkt nach ihrem Tod kaufte er ein Stillleben an. 1908 organisierte er die erste Gedächtnisschau, 1913 eine Ausstellungs-Tournee durch vier deutsche Großstädte. 1927 wurde in Bremen das „Paula Modersohn-Becker Museum“ eröffnet – als weltweit erstes, das einer Malerin gewidmet war. Selbst die Nazis, die aus anderen Museen ihre Werke als ‚entartet’ entfernten, wagten nicht, es zu schließen.

 

Malfieber als kreative Urgewalt

 

Ihre Ausnahmestellung hat sich bis heute erhalten. Ist von ihren Bildern die Rede, wird meist ein weihevoller Ton angeschlagen – zu hören auch im Video-Feature der Schirn Kunsthalle zur Ausstellung (s.o.). Da raunt man von ihrer „doppelten Potenz als Künstlerin und Mutter“: Modersohn-Beckers fiebrige Produktivität – in kaum zehn Jahren fertigte sie mehr als 700 Gemälde und 1500 Zeichnungen an – erscheint als kreative Urgewalt. Zurecht ist die Schau nicht chronologisch, sondern in zehn Themenbereiche gegliedert; jeder davon verdeutlicht, wie verschieden Modersohn-Becker ganz ähnliche Motive behandelt hat.

 

Ihr ständiger Wechsel zwischen andersartigen Malweisen – je nachdem, was sie gerade in Worpswede oder auf ihren Reisen nach Paris gesehen hatte – wird als universelle Vielseitigkeit gedeutet. Bei anderen Malern unterscheidet man stärkere und schwächere Werkphasen. Bei Modersohn-Becker gilt alles als gleich genial; aus Sicht ihrer Fans konnte sie nichts falsch machen.

 

„Luftbaden“ für „Landlust“-Leser

 

Die Analogie zur schwärmerischen Idealisierung wie bei Heiligen und anderen Lichtgestalten ist offensichtlich. Allerdings unter den Bedingungen der bürgerlichen Kunstreligion und einer speziellen Strömung der Jahrhundertwende: der Lebensreform-Bewegung.

 

Paula Modersohn-Becker war nicht nur eine selbstbewusste junge Frau, die unbeirrbar ihrer Berufung folgte. Mit ihrer ärmlich-naturnahen Lebensweise in Worpswede, wohin sie 1898 zog, und Praktiken wie nacktem „Luftbaden“ verkörperte sie auch die Aufbruchsstimmung damaliger Quasi-Aussteiger – deren Naturmystik heutige „Landlust“-Leser immer noch beeindruckt.

 

Diffuse Darstellungen für jede Sichtweise

 

Dabei war Modersohn-Becker, die an privaten Akademien gelernt hatte, technisch versiert; davon zeugen in der Schau lebensgroße naturalistische Aktzeichnungen. Doch sie strebte das „Runenhafte“ an; eine Reduzierung des Figurativen aufs emblematisch Schlichte. Derart absichtliche Regression war schon für die Avantgarden der klassischen Moderne attraktiv und ist es bis heute für weite Bereiche der Popkultur: weil die ausdifferenzierte Gegenwart als unübersichtlich und anstrengend empfunden wird.

 

Doch anders als etwa Superhelden-Filme oder Deutschrap betören Bilder von Modersohn-Becker nicht durch Eindeutigkeit, sondern durch das Gegenteil. Ihre vermeintlich plakativen Darstellungen sind tatsächlich sehr diffus; jeder kann hineinlesen, was er will. Mit verblüffendem Effekt: Man geht an einer Reihe von mehr oder weniger grob gepinselten Gesichter und Gestalten entlang, die mal an Gauguin, mal an Cézanne oder gar an antike Grabporträts erinnern. Ihre archaisierende Machart lässt eher kalt – und plötzlich ist da eins, das den Betrachter packt. Ein Stich ins Herz; kaum erklärlich, warum.

 

Wenige Tupfer für Tiefe + Dynamik

 

Ihr Werk wirkt so proteisch, weil sie wenig Zeit hatte: Hektisch probierte sie alle möglichen Einflüsse aus, die sie aufgesaugt hatte. Wobei ihr beim radikalen Vereinfachen zuweilen sehr originelle Kompositionen gelangen. So sticht aus zahlreichen Landschaften aus Worpswede, auf denen sie Felder, Wege und Himmel zu schrundigen Farbflächen versimpelt, ein „Moorgraben“ (um 1900) hervor.

 

Ein paar weiße Farbkleckse als Lichtreflexe umspielen das dunkle Spiegelbild einer Hecke im Wassergraben. Wenige Tupfer genügen, um dem Bild dreidimensionale Tiefe und Dynamik zu verleihen. Ähnlich bei den „Birkenstämmen“ (1900/1), die sie als schwarz-weißes Gesprenkel auf die Leinwand wirft.

 

Detailbilder wie Foto-Zooms

 

Hintergrund

 

Lesen Sie hier eine Rezension des Films "Paula – Mein Leben soll ein Fest sein" - einfühlsames Biopic über die Malerin von Christian Schwochow

 

und hier eine Besprechung der Ausstellung "Weltkunst – Von Buddha bis Picasso" mit Werken von Paula Modersohn-Becker im Von der Heydt-Museum, Wuppertal

 

und hier ein Beitrag über den Film "Meine Zeit mit Cézanne" über den von Paula Modersohn-Becker bewunderten Maler Paul Cézanne von Danièle Thompson.

 

Innovativ war ihre Fokussierung auf kleine Ausschnitte, besonders bei Stillleben: Der Kopf eines Fisches neben Zitronen wirkt durch pastosen Farbauftrag so schillernd, als sei er noch geschuppt. Eine „Katze in einem Kinderarm“ malt sie 1903 so nah, dass fast die Orientierung im Raum verloren geht – genauso bei Händen, die Blumen halten. Man hat solche bildfüllenden Details mit dem Zoomen von Fotoobjektiven verglichen; das gab es freilich damals noch nicht. Eher belegen sie, dass sich die Künstlerin um Kompositions-Prinzipien wenig scherte.

 

Diese Unbekümmertheit im Ausloten des Spielraums zwischen Tradition und Primitivismus macht ein Gutteil ihrer Anziehungskraft aus. Hätte sie länger gelebt, wäre sie wohl kaum eine irrlichternd Suchende geblieben, sondern hätte zu einem konsistenten Stil gefunden – doch jede distinkte Malweise ist angreifbar.

 

Spiritualität + Selbstermächtigung

 

Da sie sich aber wenige Jahre lang verausgabte und dann erlosch, kann sich jeder aus ihrem riesigen Werk herauspicken, was ihm zusagt. Und die vieldeutig statuarischen Darstellungen interpretieren, wie er oder sie will – von inniger Spiritualität bis zu weiblicher Selbstermächtigung. So entpuppt sich Paula Modersohn-Becker in der Schirn-Werkschau als ideale Projektionsfläche; das dürfte ihr weiter einen Spitzenplatz in der Beliebtheitsskala sichern.