Halle (Saale)

Sittes Welt – Willi Sitte: Die Retrospektive

Willi Sitte: Familie am Meer, 1968, Öl auf Hartfaser, 178 x 82 cm, Kunstmuseum Moritzburg Halle (Saale), Foto: Punctum/Bertram Kober. © VG Bild-Kunst
Auf zum letzten Gefecht: Wille Sitte war der umstrittenste Künstler der DDR. Zum 100. Geburtstag widmet ihm das Kunstmuseum Moritzburg die erste Werkschau seit gut 30 Jahren – ein Panoptikum zwischen Propaganda und Porno-Barock.

The man they love to hate: Wohl keinem DDR-Künstler schlug nach der Wende so viel Unmut entgegen, keiner erfuhr derartige Ablehnung wie Willi Sitte (1921-2013). Aufgrund seiner früheren Führungsrollen – als Präsident des Verbands Bildender Künstler von 1974 bis 1988, Volkskammer-Abgeordneter seit 1976 und Mitglied des ZK der SED ab 1986 zählte er zu den obersten Kulturfunktionären des untergegangenen Staats.

 

Info

 

Sittes Welt –
Willi Sitte: Die Retrospektive

 

03.10.2021 - 06.02.2022

täglich außer mittwochs

10 bis 18 Uhr

im Kunstmuseum Moritzburg, Friedemann-Bach-Platz 5, Halle (Saale) 

 

Katalog 45 €

 

Weitere Informationen

 

Sein Sturz nach 1990 war tief; zumal Sitte nichts bereute und auf seiner kommunistischen Überzeugung beharrte. Anders als die arrivierten DDR-Maler Werner Tübke, Bernhard Heisig oder Wolfgang Mattheuer wurde sein Werk kaum ausgestellt. Eine geplante Werkschau zum 80. Geburtstag in Nürnberg endete im Eklat: Das Germanische Nationalmuseum wollte sein Handeln in der DDR genauer beleuchten, daraufhin sagte Sitte verärgert ab.

 

36 Jahre auf Burg Giebichenstein

 

Nun nimmt sich mehr als 30 Jahre nach der Wiedervereinigung das Kunstmuseum Moritzburg des Umstrittenen an. Auch wegen ihres Standortvorteils: An der halleschen Kunsthochschule Burg Giebichenstein lehrte Sitte ab 1950 bis nach seiner Emeritierung 1986 – die Moritzburg verwahrt in ihrem Depot rund 100 Arbeiten des hochproduktiven Künstlers. So schöpft diese Retrospektive mit etlichen Leihgaben aus dem Vollen: Auf zwei Etagen werden mehr als 200 Werke gezeigt.

Feature zur Ausstellung. © Kunstmuseum Moritzburg Halle (Saale)


 

Vater war KP-Mitgründer

 

Chronologisch geordnet, mit Schwerpunkten durchsetzt und um Sonderräume für riesige Programmbilder sowie Sittes Wirken als Funktionär ergänzt, entsteht das facettenreiche Bild einer Künstler-Vita, die so widersprüchlich war wie das 20. Jahrhundert selbst. Willi Sitte kam 1921 im nordböhmischen Kratzau (heute: Chrastava) zur Welt; sein Vater zählte als sudetendeutscher Bauer zu den Gründungsmitgliedern der dortigen KP.

 

Das Studium an zwei Kunstschulen musste Sitte im Weltkrieg abbrechen. Als Soldat landete er in Italien; dort desertierte er 1944 und schloss sich kurzzeitig Partisanen an. Nach dem Krieg wurde er aus Böhmen nach Halle (Saale) vertrieben, wo er 1947 der SED beitrat. Zwar erhielt er drei Jahre später seinen ersten Lehrauftrag, doch litt er zeitlebens darunter, dass er weder akademische Ausbildung noch Abschluss hatte – was er offenbar mit enormem Fleiß kompensierte.

 

Von Max Klinger zu Picasso

 

Wobei er ein hervorragender Zeichner war: Schon die ersten Blätter – meist Kopien Alter Meister – zeugen von herausragendem Talent und Vielseitigkeit. Sein Ölgemälde „Zug des Lebens“ von 1947 voller markanter, einander überlagernder Figuren könnte auch vom deutschen Symbolisten Max Klinger stammen. Wenig später malte er flächig und spartanisch karg in dunklen Grau- und Braun-Tönen wie etwa Karl Hofer; ab Anfang der 1950er Jahre dominierte der Einfluss von Picasso, etwa auf dem Gemälde „Raub der Sabinerinnen“ (1953).

 

Zugleich musste sich Sitte, wie alle DDR-Künstler, mit den Vorgaben von Parteikadern und Zensoren herumschlagen. Detailliert zeichnen Schau und Katalog nach, wer wann was wo in Auftrag gab, ausführte, ausstellte, kritisierte, zurückzog oder rehabilitierte. Das mag für einstige Mitstreiter und Weggefährten von Belang sein, zumal es damals Karrieren beförderte oder blockierte. Auf heutige Betrachter wirkt es arg kleinteilig.

 

Zwei Selbstmordversuche 1961

 

Bis etwa 1960 fährt Sitte erkennbar zweigleisig: offiziell liefert er Gewünschtes, privat probiert er diverse Malweisen der Nachkriegsmoderne aus. 1961 dann ein biographischer Bruch: Auch durch eine außereheliche Affäre ausgelöst, begeht Sitte zwei Selbstmordversuche. Danach muss er sich monatelang vor Parteigremien rechtfertigen. Er schwört seiner eklektischen Kunstpraxis ab und übt 1963 öffentlich Selbstkritik: „Meine ganze Kraft für den sozialistischen Realismus“.

 

Während seine Freundschaften mit eher dissidentischen Intellektuellen wie Christa Wolf, Sarah Kirsch und Wolf Biermann allmählich in die Brüche gehen, steigt Sitte im ostdeutschen Kunstbetrieb steil auf. 1964 erhält er den Kunstpreis der DDR für „Die Überlebenden“: ein altmeisterlich anmutendes Polyptychon in Grisaille-Technik mit geschundenen und versehrten Soldaten. Eine Anklage der Schrecken des Krieges, natürlich; aber auch eine sehr eigenwillige Komposition.

 

Foto-Kubismus + Agitprop-Pop-Art

 

Fortan wird Sittes Werk interessant – paradoxerweise während er zum Liebling der Einheitspartei aufstieg. Zwar wählt er ideologietreu Motive aus der Arbeitswelt, etwa einen „Chemiearbeiter am Schaltpult“ (1968); den Rückblick auf vergangene Klassenkämpfe in „Leuna 1921“ (1965/66) oder den Vorgriff auf die lichte kommunistische Zukunft in „Leuna 1969“. Doch diese Sujets behandelt er auf eine Weise, die nichts mit braver fotorealistischer Pinselei in sowjetischer Tradition zu tun hat.

 

Sitte zerlegt die Leinwand in mehrere einander überlappende Ebenen, auf denen er gleichsam als Foto-Kubismus verschiedene Ansichten derselben Gegenstände staffelt oder spiegelt. Seine Historien- werden zu Wimmelbildern, auf denen Dutzende dicht gedrängter Gestalten verknäuelt und kaum voneinander zu unterscheiden sind. Oder er probiert sich an einer Art Agitprop-Pop-Art, wenn er Gebrauchsgegenstände und Schlagzeilen des „Neuen Deutschland“ in die Kompositionen integriert.

 

Stils von Honeckers Gegenreformation?

 

Hintergrund

 

Lesen Sie hier eine Rezension der Ausstellung "Point of No Return - Wende und Umbruch in der ostdeutschen Kunst" im Museum der bildenden Künste Leipzig mit Werken von Willi Sitte

 

und hier eine Besprechung der Ausstellung "Hinter der Maske - Künstler in der DDR" - umfassende DDR-Überblicks-Schau im Museum Barberini, Potsdam mit Werken von Willi Sitte

 

und hier eine Kritik der Ausstellung "Moderne in der Werkstatt: 100 Jahre Burg Giebichenstein" zur Geschichte der Design-Hochschule im Kunstmuseum Moritzburg, Halle/ Saale

 

und hier einen Beitrag über die Ausstellung "Wolfgang Mattheuer - Bilder als Botschaft" – Retrospektive eines der bekanntesten DDR-Künstler in der Kunsthalle Rostock

 

und hier einen Bericht über die Ausstellung "Das große Welttheater" - Retrospektive des DDR-Künstlers Bernhard Heisig im Kunst-Raum des Bundestags, Berlin.

 

Ende der 1960er Jahre findet der Experimentierfreudige zu dem Stil, der sein berühmt-berüchtigtes Markenzeichen werden sollte: voluminöse Akte, wild gebogen und expressionistisch bunt koloriert wie in „Familie am Meer“ (1968). Dabei malt sich der Künstler so explizite Positionen aus, dass in unseren neoprüden Zeiten das Museum eine „Trigger-Warnung“ anbringt: Diese drastischen Sex-Szenen könnten zartbesaitete Seelen verstören. In der pornofreien DDR, in der die Akt-Fotostrecken von „Das Magazin“ schon als gewagt galten, dürften Sittes Bilder das erotisch Eindeutigste gewesen sein, was es zu sehen gab.

 

Man kann das als „trotzigen Gestus eines zwanghaften sozialistischen Ba­rocks, eines Stils der Gegenreformation von Honeckers Gna­den zu Ulbrichts marktwirtschaftlichen und technokrati­schen Reformversuchen“ deuten wie der Kunsthistoriker Eckhart Gillen im Katalog: als marktschreierisches Übertünchen von Stagnation. Oder umgekehrt: als selbstbewusstes Auftrumpfen in einer Gesellschaft, die der ständigen Aufbau-Mobilisierung überdrüssig war und sich kleinen Freuden im sozialistischen Wohlfahrtsstaat hingab.

 

Bilderfürst mit blinder Brille

 

Jedenfalls erstaunt noch heute, dass ausgerechnet dieser Fleischsalat sinnesfroh vibrierender Leiber auf meterhohen Formaten zeitgemäßer „sozialistischer Realismus“ sein sollte. Kommunismus als lustvolle Swinger-Orgie? Wohl kaum; eher drückt sich darin Ignoranz und Opportunismus der Parteischranzen aus. Spätestens als Künstlerverbands-Chef wurde Sitte unantastbar – ihn anzugreifen, hätte bedeutet, sich mit der SED-Führungsriege anzulegen. Also konnte er malen, was und wie er wollte: Quod licet Iovi, non licet bovi.

 

Was er auch tat, selbst nach der Wende: die Bandbreite seiner Themen und Techniken verblüfft. Seiner undurchsichtigen Wandelbarkeit scheint er sich bewusst gewesen zu sein. Davon zeugen zahlreiche Selbstporträts, jedes in anderer Pose, doch meist mit schmalen, zusammengepresst wirkenden Lippen und oft mit spiegelnd-blinder Brille: ein kaltschnäuziger Bilderfürst der Finsternis.