Alle Achtung: Den Berlinale-Machern gebührt Respekt dafür, in diesen Zeiten des Zitterns, Zauderns und Zagens die Filmfestspiele überhaupt durchgeführt zu haben. Nicht als Online-Phantomschau wie im Vorjahr, auch nicht als amputierte Alibi-Angelegenheit, sondern als vollwertiges Festival mit Hunderten von Vorführungen in Kinosälen binnen zehn Tagen, derweil andernorts reihenweise Veranstaltungen abgesagt werden. Allein das ist eine große Leistung.
Allerdings wird sie durch Angst vor der eigenen Courage arg geschmälert. Für ihre 72. Ausgabe hatte sich die Berlinale derart viele Einschränkungen auferlegt, dass sie ihr Festival-Profil weitgehend zunichte machte. Der parallele „European Film Market“, eine der wichtigsten Branchen-Messen weltweit, fand nur virtuell statt. Alle Begleitveranstaltungen, Empfänge und Partys waren gestrichen. Von Glamour auf dem Roten Teppich konnte keine Rede sein; das Schaulaufen vor dem Berlinale-Palast verfolgten oft nur zwei Dutzend Schaulustige.
Durch Notausgänge rausgehen
Für alle Vorstellungen galt das 2G+-Regime: geimpft und genesen, dazu geboostert oder getestet. Solche Covid-Tests mussten Mitarbeiter und Pressevertreter alle 24 Stunden machen. In den Sälen blieb jeder zweite Platz frei; sogar Paare wurden mit Nachdruck auseinander gesetzt. Maskenpflicht galt während der gesamten Vorführung. Nach ihr mussten die Zuschauer den Saal durch Notausgänge verlassen, um keinesfalls Wartenden vor den Eingängen zu begegnen.
Ausschnitt aus "Alcarràs" von Carla Simón, OmeU; © Avalon
Das Publikum blieb aus
Kontaktminimierung um jeden Preis – doch damit führen sich die Festspiele ad absurdum. Ihre raison d’être besteht in Gemeinschaftserlebnissen: Viele Menschen sehen sich gleichzeitig Filme an und tauschen sich anschließend darüber aus. Wird das unterbunden und fehlen überdies pomp and circumstances völlig, entfällt jeder Grund, sich den Aufwand der Kartenbeschaffung und das Risiko anzutun, an einen schlechten Film zu geraten. Dann bleiben selbst hartgesottene Fans fern.
Genau das ist bei der diesjährigen Berlinale geschehen: Das Publikum blieb aus. Zahlreiche Vorstellungen fanden vor allenfalls halbgefüllten Sälen statt. Das Festivalgelände am Potsdamer Platz war tagsüber meist so leergefegt wie an beliebigen Winter-Werktagen. Nachteilig wirkte zudem die bizarre Entscheidung, den Wettbewerb auf sechs Tage zu verkürzen, die Bären-Gewinner schon am Mittwoch zu verkünden und die restliche Woche zu „Publikumstagen“ zu erklären: Wer will noch Filme sehen, die von den Jurys aussortiert worden sind?
Löbliche Programm-Halbierung
Dabei hätte die Verkleinerung des Wettbewerbs auf 18 Filme die Chance geboten, täglich nur zwei anstelle von drei ins Rennen zu schicken; dann hätte jeder von ihnen mehr Beachtung und Medienresonanz erfahren. Ähnlich bei den übrigen Sektionen: Ihre Verringerung auf rund die Hälfte war löblich. Es liefen deutlich weniger politisch korrekte, aber qualitativ indiskutable Fingerübungen; ebenso weniger queere Filme von und für die LGBTQI*-Community, die seit etlichen Jahren das Panorama-Programm verstopfen.
Doch das Gesundschrumpfen blieb halbherzig; eher äußeren Zwängen als der Einsicht in notwendige Veränderungen geschuldet. Zumal das rigide Covid-Regime der Berlinale an Selbstsabotage grenzte: Die übereifrigen Schutzmaßnahmen dürften viele Kinogänger abgeschreckt haben. Darin drückt sich ein Grundwiderspruch des nach eigenen Ansprüchen „politischsten“ der großen A-Festivals auf. Allenthalben beschwören die Macher die systemverändernde Kraft der Filmkunst: Kino soll nonkonformistisch, rebellisch und subversiv sein, um den Blick auf die Welt und damit diese selbst zu verändern.
Grundwiderspruch der Subventionskultur
Doch im eigenen Haus treten sie so übervorsichtig und sicherheitssüchtig wie Seniorenheim-Betreiber auf: Alle gängeln, kontrollieren und bloß nichts riskieren, damit ja nichts Unvorhergesehenes geschieht. Dieser Grundwiderspruch prägt nicht nur die Berlinale, sondern den ganzen Subventions-Kulturbetrieb mitteleuropäischen Zuschnitts. Sein Publikum soll sich auf revolutionäre Erfahrungen einlassen, die alles Bekannte sprengen – dargeboten von Künstlern, die Bestandsgarantien und Zuschüsse für zehn Jahre im Voraus einfordern.
Denn Fortschritt ist eine Sache von Fünfjahresplänen, etwa bei Geschlechtergerechtigkeit. Dabei ist die Berlinale weit vorangekommen: Mehr als 40 Prozent aller gezeigten Werke und sieben von 18 Wettbewerbsfilmen stammten von Regisseurinnen. Außerdem vergab die Jury bis auf zwei Ausnahmen alle Bären an Frauen. Ein schöner Erfolg für Quoten-Aktivistinnen – auch wenn er über die Qualität der vorgeführten und prämierten Filme nichts aussagt. Doch keiner hat je behauptet, dass Frauen bessere Filme machen; es geht um Ressourcen-Umverteilung.
Goldener Bär für Wohlfühl-Reize
Aufs Bekannte und Überschaubare wie Familien und andere Kleingruppen beschränkten sich auch die meisten Wettbewerbsfilme. Natürlich lassen sich unter Corona-Bedingungen kaum Großproduktionen mit Massenszenen realisieren; doch lauter Handkamera-Kammerspiele brauchen keine große Leinwand.
Zumindest ins Freie begab sich die Katalanin Carla Simón für „Alcarràs“: das Porträt einer bäuerlichen Großfamilie, deren Pfirsichbaum-Plantage einem Solarpaneelen-Wald weichen muss. Lichtdurchflutet, landleben-nostalgisch, voller Verständnis für mediterrane Traditionen, aber auch nötigen Fortschritt: Für so viele konsensfähige Wohlfühl-Reize erhielt Simón den Goldenen Bären für den besten Film.
Kabarettistin als beste Hauptrolle
Kontrovers wurden hingegen die beiden Preise für „Rabiye Murnaz gegen George W. Bush“ von Andreas Dresen aufgenommen. Die Leidensgeschichte von Murat Kurnaz aus Bremen, der schuldlos im US-Gefangenenlager Guantánamo einsaß, ist bereits 2013 unter dem Titel „Fünf Jahre Leben“ verfilmt worden. Also stellt Dresen seine Mutter in den Mittelpunkt einer tragikomischen Groteske – was ihm den Vorwurf eintrug, er entpolitisiere die Affäre.
Dennoch bekam Drehbuchautorin Laila Stieler den Silbernen Bären für das beste Skript – und die dralle deutschtürkische Kabarettistin Meltem Kaptan den Bären für die beste Hauptrolle. Eine Comedy-Wuchtbrumme als vorzüglichste Schauspielerin? Das lässt ahnen, wie staubtrocken die meisten Wettbewerbsbeiträge waren.
Dauergast mit amateurhafter Anti-Ästhetik
Etwa „The Novelist’s Film“ von Hong Sangsoo: Dass der Berlinale-Dauergast aus Südkorea bei der sechsten Teilnahme seinen dritten Bären in Serie gewann, diesmal den „Großen Preis der Jury“, lässt sich nur als Trotzreaktion deuten, seine amateurhafte Anti-Ästhetik mit banal palavernden Alltagshelden zur Avantgarde des Understatements zu verklären.
Ähnlich ist wohl der Preis für die beste Regie an Claire Denis zu verstehen. Seit Jahrzehnten drechselt die Französin an mehr oder weniger vertrackten Beziehungsgeschichten herum – „Both Sides of the Blade“ über eine Frau zwischen zwei Männern zählt zu den schlichteren. Verdient ist jedoch der „Preis der Jury“ an die Mexikanerin Natalia López Gallardo für „Robe of Gems“: Ihr gelingt es, der Dauerkatastrophe des Drogenterrors in Mexiko noch neue Bilder und Einsichten abzugewinnen.
Dioramen-Fabel als herausragende Leistung
Enttäuschend fiel dagegen „Nana“ von Kamila Andini aus: Sie begrub die Erinnerung an die antikommunistischen Massaker 1965 in Indonesien unter gefühligem Abtasten ihrer Hauptfigur und kunstgewerblichem Schwelgen in edlen Interieurs. Dass dabei die unauffällige Laura Basuki für die beste Nebenrolle ausgezeichnet wurde, darf ebenso als Trostpreis gelten wie der Bär für „eine herausragende künstlerische Leistung“ an Rithy Panh. Der Kambodschaner umging das Corona-Problem, indem er seine Dystopie-Fabel mit Dioramen inszenierte. Dagegen ging der Kritikerfavorit „Drii Winter“ von Michael Koch aus der Schweiz leer aus.
Sein Landsmann Cyril Schäublin wurde indes im „Encounters“-Wettbewerb, der weiterhin diffus und überflüssig wirkt, für die beste Regie prämiert. Zurecht: „Unrueh“ über die Anfänge der Schweizer Uhrenindustrie war einer der originellsten Filme des Festivals. Inhaltlich – unter vom Präzisionsfetischismus gepeinigte Arbeiter mischen sich anarchistische Agitatoren – wie auch formal: Schäublin komponiert seine Einstellungen im Wortsinne ex-zentrisch, indem er seine Darsteller oft an die Bildränder rückt und somit die Aufmerksamkeit diskret auf Anderes lenkt.
Altbackener Porno + Filmemacher
Hintergrund
Lesen Sie hier die Festival-Bilanz der 71. Berlinale 2021: "Phantom-Festival der Anti-Ästhetik"
und hier eine Festival-Bilanz der 70. Berlinale 2020: "Verwelkte Vorschusslorbeeren"
und hier eine Festival-Bilanz der 69. Berlinale 2019: "Schmallippiger Staatsbetrieb"
Noch altbackener kam „Bis Freitag, Robinson“ daher, mit dem „Spezialpreis der Jury“ dekoriert: Die frankoiranische Regisseurin Mitra Farahani dokumentiert die Korrespondenz zwischen Jean-Luc Godard und Ebrahim Golestan. Beide Filmemacher sind weit über 90 Jahre alt – da verbietet sich jede Kritik.
Südsudan anstelle von USA
Mit reiner Traditionspflege nach dem Senioritätsprinzip wird die Berlinale aber nicht weit kommen. Der Wettbewerb, in dem nur sechs Filme nicht aus Mittel- oder Westeuropa kamen, erschien arg provinziell. Ganze Weltregionen und große Filmnationen wie USA, China, Japan, Indien und Russland waren kaum oder gar nicht vertreten.
Gewiss hat das Festival noch ein Alleinstellungsmerkmal: Wo sonst kann man Filme aus so entlegenen Gegenden wie Kasachstan, Südsudan oder der Zentralafrikanischen Republik sehen? Mit Exotismus allein dürfte es aber das abgewanderte Publikum nach der Epidemie kaum zurückgewinnen.