
15 Minuten Ruhm für jeden – koste es, was es wolle: Dass es im internationalen Kunstbetrieb nicht gerade philanthropisch zugeht, wissen Arthouse-Kinogänger spätestens seit „The Square“ von Ruben Östlund. Seine Kunstmarkt-Satire wurde 2017 mit der Goldenen Palme prämiert. In diese Welt führt auch der Spielfilm der tunesischen Regisseurin Kaouther Ben Hania, in dem ein syrischer Flüchtling buchstäblich seine Haut zu Markte trägt, um nach Europa zu kommen.
Info
Der Mann, der seine Haut verkaufte
Regie: Kaouther Ben Hania,
104 Min., Tunesien/ Frankreich/ Deutschland/ Belgien 2020;
mit: Yahya Mahayni, Dea Liane, Koen De Bouw, Monica Bellucci
Weitere Informationen zum Film
Sich an Galerie-Büffets durchfuttern
Sam gelingt die Flucht in den Libanon. Sehnsüchtig skypet er von dort aus mit Abeer, die von ihrer Familie gedrängt wird, einen Diplomaten zu heiraten. Derweil hält sich Sam mit miesen Jobs über Wasser, unter anderem in einer Hühnerschlachterei. Abends schnorrt er sich auf Vernissagen in Galerien am Büffet durch, um Ausgaben für Lebensmittel zu sparen.
Offizieller Filmtrailer
Mit Visum-Tattoo nach Europa
Dabei fällt er dem belgischen Aktionskünstler Jeffrey Godefroi (Koen de Bouw) auf, der ihm ein bizarres Angebot macht: Sam soll seinen Rücken als Leinwand zur Verfügung stellen, um darauf ein Abbild des begehrten Schengen-Visums zu tätowieren. Als Gegenleistung bekommt Sam ein echtes Visum; zusätzlich verpflichtet er sich, als Ausstellungsstück auf Abruf mit dem Künstler durch internationale Galerien zu touren.
Sam sieht endlich eine Chance, seine geliebte Abeer wiederzusehen; sie hat den Wünschen ihrer Familie nachgegeben und den in Brüssel stationierten Diplomaten geheiratet. Seine neu gewonnene Freiheit hat allerdings enge Grenzen. Er logiert zwar in luxuriösen Hotels. Doch außer diesen und den Museen oder Galerien, wo er täglich halbnackt seine Stunden als Exponat absitzt, sieht er nicht sehr viel von Europa.
Künstler Wim Delvoye als Vorbild
Genauer: nur ein sensationslüsternes Publikum, das übergriffig wird und sowohl Distanz als auch gute Manieren vermissen lässt. Sam wird angestarrt und fotografiert wie ein Zootier. Unwillkürlich erinnern diese Szenen an die um 1900 sehr beliebten Kolonial-Austellungen in europäischen Metropolen.
Die Geschichte beruht auf realen Ereignissen. Regisseurin Ben Hania wurde durch eine Ausstellung des belgischen Künstlers Wim Delvoye inspiriert, der den Rücken des Schweizers Tim Steiner aufwändig tätowierte und das Ergebnis jahrelanger Arbeit 2012 im Louvre zeigte. Steiner posierte dort mit freiem Oberkörper als „Werk“. Es wurde später an den Hamburger Sammler Rik Reinking verkauft: Wenn Steiner stirbt, gehört Reinking seine Rückenhaut. Bis dahin muss der Träger, wie Sam Ali, einige Wochen im Jahr für Ausstellungszwecke zur Verfügung stehen.
Restaurierung beim Hautarzt
Durch die Verknüpfung dieses exzentrischen Arrangements mit einer Fluchtgeschichte erhält der Film eine weitere Dimension. Die Regisseurin verschmilzt zwei Geschäftsmodelle miteinander, den internationalen Handel mit Flüchtlingen und Quasi-Arbeitssklaven sowie den mit zeitgenössischer Kunst. Allerdings nicht als bitterböse Satire: Ben Hania lotet weder die Untiefen beide Phänomene bis ins letzte aus noch prangert sie diese an.
Hintergrund
Lesen Sie hier eine Rezension der Ausstellung "Existenzielle Bildwelten - Sammlung Reinking" mit dem Rückentattoo-Kunstwerk "TIM" von Wim Delvoye in der Weserburg, Bremen
und hier eine Besprechung des Films "Innen Leben - Insyriated" - packendes Syrien-Kriegsdrama von Philippe Van Leeuw
und hier ein Beitrag über den Film "The Square" - gallige Kunstmarkt-Satire aus Schweden von Ruben Östlund, prämiert mit Goldener Palme 2017
und hier einen Beitrag über die Ausstellung "The Global Contemporary – Kunstwelten nach 1989" zur Globalisierung des Kunstmarkts im ZKM, Karlsruhe.
Neokolonialer Kunstbetrieb
Sowohl die überkandidelte Künstlermeute als auch deren Publikum kommen nicht besonders gut weg. Monica Bellucci spielt mit weißblonder Mähne Jeffreys undurchsichtige Assistentin, die Sam freundlich, aber bestimmt bewacht. Ihre Figur als auch die des Künstlers selbst sind etwas zu eindimensional geraten; er wird als teils zynischer, teils zweifelnder Grübler gezeigt, der die Kunstmarkt-Mechanismen virtuos beherrscht.
Davon abgesehen arbeitet die Regisseurin durchaus mit subtilen Zwischentönen und vertraut dabei auf die Sensibilität des Publikums, das vom intensiven Spiel der Hauptfigur eingenommen wird. Natürlich ist der Film auch eine Parabel über Menschen als Ware und die abendländische Arroganz, die auch den Umgang des vermeintlich emanzipatorischen Kunstbetriebs mit dem Rest der Welt prägt.
Letzter Auftritt in Syrien
Dabei emanzipiert sich Sam Alis vom Handels-Objekt zum rebellischen Subjekt; er sprengt die Party des Sammlers, der das Werk auf seinem Rücken kaufte. Allerdings findet er in Europa nicht die erhoffte Freiheit; als verheiratete Frau bleibt Abeer für ihn unerreichbar. So kehrt er nach Syrien zurück: Sam Alis letzte große Präsentation wartet mit einer unerwarteten Überraschung auf, die auch mit kleinen Schwächen der Dramaturgie versöhnt.