Kida Khodr Ramadan

Saf

Remziye (Saadet Işil Akoy) und ihr Ehemann Kamil (Erol Afsin). Foto: © Copyright: 2Pilots Filmproduktion
(Kinostart: 24.2.) Das Leben ist eine Spekulanten-Baustelle: Auf ihr schuftet ein Handlanger in Istanbul zum Dumpinglohn. Der reicht hinten und vorn nicht; Gewalt ist auch keine Lösung. Regisseur Ali Vatansever beleuchtet die Armutsfalle des türkischen Prekariats nach 20 Jahren AKP-Herrschaft.

Der gute Mensch von Fikirtepe: So heißt ein Stadtviertel im asiatischen Teil von Istanbul nahe des Bahnhofs Haydarpaşa. Ab den 1960er Jahren entstanden dort Gecekondular, irreguläre Siedlungen aus selbst gezimmerten Häuschen für Zuwanderer aus Anatolien. Wegen seiner verkehrsgünstigen Lage ist Fikirtepe – wie etliche andere Gegenden in Istanbul – zum Objekt der Begierde von Bauspekulanten geworden: Sie kaufen die windschiefen Behausungen günstig auf, reißen sie ab und errichten an ihrer Stelle Hochhäuser aus Beton.

 

Info

 

Saf

 

Regie: Ali Vatansever,

102 Min., Türkei/ Rumänien/ Deutschland 2019;

mit: Erol Afşin, Saadet Işil Aksoy, Kida Khodr Ramadan

 

Weitere Informationen zum Film

 

Diese Gentrifizierung auf Türkisch läuft auch in der Nachbarschaft von Kamil (Erol Afşin) ab. Dagegen haben sich einige Bewohner zu einer Initiative zusammengeschlossen. Sie warnen, der Baulöwe Hamza Bulat werde alle übervorteilen, doch ihr Protest wirkt ohnmächtig. Kamil will sich heraushalten. Lieber tut er seinen Mitmenschen gute Dienste – vom Reifenwechsel bis zum Wässern des Gemüsebeets, dass seiner Frau Remziye (Saadet Işil Aksoy) und den Anwohnern die Zutaten zum Abendessen liefert.

 

Zum Syrer-Niedriglohn malochen

 

Doch das Geld ist allzu knapp; Remziyes Job als Putzfrau und Babysitterin in einem reichen Haushalt bringt wenig ein. Also übernimmt Kamil auf einer Großbaustelle die Nachtschichten als Baggerfahrer. Diese Arbeit bekommt er nur, weil sich der Syrer Ammar („4 Blocks“-Star Kida Khodr Ramadan) verletzt hat, der sie zuvor erledigte. Zum gleichen Niedriglohn, zu dem sich syrische Flüchtlinge verdingen – wodurch sich Kamil Ärger mit türkischen Kollegen einhandelt.

Offizieller Filmtrailer


 

Türkisch-syrische Aussprache im Knast

 

Zudem muss er einen Weiterbildungs-Kurs absolvieren, um den Bagger bedienen zu dürfen – den Kamil aber nicht bezahlen kann. Sein Freund Fatih, der ihm aushelfen könnte, hält ihn hin. Überdies stellt ihm der Syrer Ammar handgreiflich nach; er wohnt mit seiner Familie in einem Abbruchhaus ohne Strom oder Wasseranschluss und weiß nicht, wie er die Seinen noch ernähren soll. Kamils versöhnlich gemeinte Almosen-Gesten lehnt er ab.

 

Nach der Hälfte des Films will Kamil dieses Problem mit Gewalt lösen – wird aber selbst deren Opfer. Verzweifelt sucht Remziye nach ihrem verschwundenen Mann, stößt anfangs überall auf Desinteresse und Gleichgültigkeit, findet aber dann doch seine Spur. Bis zum ergreifenden Fast-Finale: In einem langen Gespräch mit Ammar, der mittlerweile inhaftiert ist, macht er ihr klar, dass sie alle unter denselben Nöten und Zwängen leiden.

 

Drei Millionen Bürgerkriegs-Flüchtlinge

 

Soziale Spaltung und Ausbeutung, urbane Verdrängung, Migranten und Rassismus: Regisseur Ali Vatansever greift eine Menge aktueller Probleme auf. Doch ihm gelingt es, sie so miteinander zu verknüpfen, dass es weder aufgesetzt noch überfrachtet wirkt. Stattdessen macht er deutlich, wie prekär die Lage seiner Protagonisten ist: Jeder ihrer Versuche, ein Loch zu stopfen, reißt an anderer Stelle ein neues auf.

 

Hintergrund

 

Lesen Sie hier eine Rezension des Films "Eine Geschichte von drei Schwestern" - beeindruckende Sozialstudie eines archaischen anatolischen Bergdorfes von Emin Alper

 

und hier eine Besprechung des Films "Mustang" – eindrucksvolles Zwangsheirats-Drama in der Türkei von Deniz Gamze Ergüven mit Erol Afşin

 

und hier ein Beitrag über den Film "Song of my Mother" - kurdisches Gentrifizierungs-Sozialdrama von Erol Mintaş

 

und hier einen Bericht über die Ausstellung "Ara Güler - Das Auge Istanbuls: Retrospektive von 1950 bis 2005" im Willy-Brandt-Haus, Berlin

 

Diese Prekariats-Studie hat wenig mit Sozialdramen mitteleuropäischer Prägung gemein. Im Gegenteil: Sie zeigt ein Schwellenland mit teils boomenden Wirtschaftssektoren und moderner Technik oder Verwaltung, doch die Armen bleiben sich selbst überlassen. Was durch den Zustrom von Flüchtlingen verschärft wird: Drei Millionen Einwanderer aus Syrien konkurrieren mit der heimischen Unterschicht um Handlanger-Jobs – ein harter Stresstest für die Gesellschaft.

 

Beste Vorsätze pflastern Elendsweg

 

Dabei hat die Bestandsaufnahme von Regisseur Vatansever durchaus leichte Schwächen. Die Wandlung des Moralisten Kamil vom Paulus zum Saulus verläuft arg gedrängt, zumal die Mimik von Erol Afşin unter seinem Vollbart fast verschwindet. Umso beeindruckender ist die Leinwandpräsenz von Saadet Işil Aksoy als seiner Frau Remziye, die dem Wechselspiel von Hoffnung und Trauer, von Arglist und Versöhnung jederzeit nuanciert Ausdruck verleiht.

 

Das ist auch nötig: Bei der Fülle von Akteuren und Schauplätzen fällt es dem Publikum nicht leicht, den Überblick zu behalten. Zumindest dem hiesigen; wer Türkisch beherrscht, mag manche Andeutungen in Worten und Gesten verstehen, die Unkundigen verborgen bleiben. Dennoch beeindruckt die Präzision, mit der Vatansever die tristen Lebensumstände der türkischen Unterschicht nach zwei Jahrzehnten AKP-Regime beleuchtet: Der Weg ins Elend ist mit besten Vorsätzen gepflastert