Juho Kuosmanen

Abteil Nr. 6

Laura (Seidi Haarla) und der Bergarbeiter Ljoha (Yuriy Borisov) lernen sich im Zug nach Murmansk kennen. Foto: ©2021 Sami Kuokkanen Aamu Film Company
(Kinostart: 31.3.) Pfannkuchen mit Wodka im „Wagon-Restoran“: Langstreckenfahrten in russischen Nachtzügen sind legendär. Regisseur Juho Kuosmanen lässt eine finnische Studentin ans Polarmeer fahren – in einer stimmungsvoll melancholischen Zeit-Zugreise.

Es ist eng im Abteil, stickig und kalt, während der Zug durch das winterliche Russland der späten 1990er Jahre rast. All das wäre nicht so schlimm, wenn die finnische Archäologiestudentin Laura (Seidi Haarla) die Fahrt nach Murmansk am Polarmeer wie geplant angetreten hätte: gemeinsam mit der jungen Professorin Irina (Dirana Drukarova), mit der sie in Moskau eine Beziehung führt. Aber Irina ist kurzfristig beruflich verhindert; deshalb schickt sie Laura allein in die größte Stadt der Arktis.

 

Info

 

Abteil Nr. 6

 

Regie: Juho Kuosmanen,

106 Min., Finnland/ Estland/ Russland/ Deutschland 2021;

mit: Seidi Haarla, Yuriy Borisov, Dirana Drukarova

 

Weitere Informationen zum Film

 

Dort gibt es in der Nähe seltene Petroglyphen, mysteriöse Felsbilder aus prähistorischer Zeit; die soll sie sich genau ansehen. Doch im Zug trifft Laura auf den russischen Bergarbeiter Ljoha (Yuriy Borisov). Er hält sichtlich wenig von Lauras Forschungsvorhaben und hat ganz andere Sorgen – Ljoha sucht einen neuen Job. Die Reisezeit vertreibt er sich vor allem mit viel Wodka und Schlafen. Er ist ein roher Typ, ungehobelt und laut.

 

Klischeehafter Russen-Rüpel

 

Auch sonst entspricht Ljoha allen Klischees über proletarische Russen seines Alters: ohne Anstand und Manieren, aber mit jeder Menge Beleidigungen und frauenfeindlichen Bemerkungen gibt er sich zunächst wenig Mühe, um mit Laura ernsthaft ins Gespräch zu kommen. Doch die Reise dauert mehrere Tage. Da sich beide das „Abteil Nr. 6“ teilen müssen, sind sie dazu gezwungen, sich wohl oder übel miteinander zu arrangieren.

Offizieller Filmtrailer


 

Fragile Fremden-Freundschaft

 

So lautet die simple Prämisse dieses gefälligen Roadmovies, die an Richard Linklaters inzwischen klassische Romanze „Before Sunrise“ von 1995 erinnert. Damals trafen sich Julie Delpy und Ethan Hawke im Zug von Budapest nach Paris und beschlossen spontan, einen Zwischenstopp in Wien einzulegen – mit schicksalhaften Folgen: den Fortsetzungen „Before Sunset“ (2004) und „Before Midnight“ (2013).

 

Anders als bei “Before Sunrise” sind aber die beiden Hauptfiguren von „Abteil Nr. 6“ anfangs einander durch herzliche Abneigung verbunden, wie es die Romanvorlage der Autorin Rosa Liksom vorgibt. Im Kern geht es Regisseur Juho Kuosmanen „um zwei Menschen, die sich irgendwo unterwegs verloren haben und die im Laufe der Reise etwas in ihrem Gegenüber erkennen, dass sie miteinander verbindet.“ Dieses „etwas“ läuft bei diesem ungleichen Paar nicht auf eine Liebesgeschichte, sondern auf eine ungewöhnliche, fragile Freundschaft hinaus.

 

Nostalgie einer Zeit-Zugreise

 

Der Plot klingt auf den ersten Blick vielleicht kalkuliert. Umso erstaunlicher wirkt der Charme, den der Film gleich auf mehreren Ebenen versprüht. Regisseur Kuosmanen machte vor fünf Jahren mit seinem Debüt „Der Glücklichste Tag im Leben des Olli Mäki“ über einen finnischen Boxprofi in den 1960er Jahren auf sich aufmerksam. Im Nachfolgefilm versteht er es, das Gefühl emotionaler Vertrautheit, das zwischen den Figuren entsteht, auf das Publikum überspringen zu lassen. Es trägt den Film über weite Strecken, während man Lauras Reise mit ihr und durch ihre Augen erlebt. Dabei ist eine Fotokamera mit gespeicherten Aufnahmen von Irina ihr ständiger Begleiter.

 

Hintergrund

 

Lesen Sie hier eine Rezension des Films  "Der glücklichste Tag im Leben des Olli Mäki" – finnisches Boxer-Drama von Juho Kuosmanen

 

und hier ein Interview mit Regisseur Juho Kuosmanen zum Film "Der glücklichste Tag im Leben des Olli Mäki"

 

und hier eine Besprechung des Films "Before Midnight" von Richard Linklater über die unendliche Liebesgeschichte von Ethan Hawke + Julie Delpy

 

und hier einen Bericht über den Film "How I Ended This Summer" – brillantes Psycho-Duell-Drama am Polarkreis von Alexej Popogrebsky, prämiert mit drei Silbernen Bären bei der Berlinale 2010.

 

Dazu kommt die Nostalgie einer altmodischen Fernbahnreise: wie die Passagiere in den Waggons zusammengedrängt sind. Wie draußen Winterlandschaften voller Kälte und Schnee vorbeifliegen und dabei das Gefühl vermitteln, in Russland nicht nur durch ein Territorium, sondern auch durch die Zeit zu reisen. Auch wenn diese Zugfahrt vor kaum einem Vierteljahrhundert stattfand: Viele dieser Orte, Gebäude und sonstigen Eindrücke sind mittlerweile vergangen und verloren, was auch den Regisseur fasziniert.

 

Schnaps sticht in die Nase

 

Trotzdem weist der Film einige grobe Mängel auf, sowohl bei den Figuren als auch der dürftigen Handlung. Weder Laura noch Ljoha sind markante Charaktere; nur die Umstände und der enge Raum, in dem sie sich bewegen, sowie die schauspielerischen Fähigkeiten der Darsteller lassen sie halbwegs prägnant wirken. Zudem erscheint ein Ausflug zu einer älteren Bekannten von Ljoha, bei der viel schwarzgebrannter Schnaps geschluckt wird, reichlich unglaubwürdig.

 

Schließlich verlangt vor allem Ljohas aggressiv antifeministisches Auftreten am Anfang einige Toleranz, um als Zuschauer nicht vorzeitig auszusteigen. Dafür wird man mit schön gefilmten Winterlandschaften belohnt, die schwermütig stimmen können, sowie mit Eindrücken von der klaustrophobische Enge in russischen Nachtzügen. Fast scheint es, als könnte man noch den billigen Wodka riechen, der dort getrunken und verschüttet wurde.