Es ist eng im Abteil, stickig und kalt, während der Zug durch das winterliche Russland der späten 1990er Jahre rast. All das wäre nicht so schlimm, wenn die finnische Archäologiestudentin Laura (Seidi Haarla) die Fahrt nach Murmansk am Polarmeer wie geplant angetreten hätte: gemeinsam mit der jungen Professorin Irina (Dirana Drukarova), mit der sie in Moskau eine Beziehung führt. Aber Irina ist kurzfristig beruflich verhindert; deshalb schickt sie Laura allein in die größte Stadt der Arktis.
Info
Abteil Nr. 6
Regie: Juho Kuosmanen,
106 Min., Finnland/ Estland/ Russland/ Deutschland 2021;
mit: Seidi Haarla, Yuriy Borisov, Dirana Drukarova
Weitere Informationen zum Film
Klischeehafter Russen-Rüpel
Auch sonst entspricht Ljoha allen Klischees über proletarische Russen seines Alters: ohne Anstand und Manieren, aber mit jeder Menge Beleidigungen und frauenfeindlichen Bemerkungen gibt er sich zunächst wenig Mühe, um mit Laura ernsthaft ins Gespräch zu kommen. Doch die Reise dauert mehrere Tage. Da sich beide das „Abteil Nr. 6“ teilen müssen, sind sie dazu gezwungen, sich wohl oder übel miteinander zu arrangieren.
Offizieller Filmtrailer
Fragile Fremden-Freundschaft
So lautet die simple Prämisse dieses gefälligen Roadmovies, die an Richard Linklaters inzwischen klassische Romanze „Before Sunrise“ von 1995 erinnert. Damals trafen sich Julie Delpy und Ethan Hawke im Zug von Budapest nach Paris und beschlossen spontan, einen Zwischenstopp in Wien einzulegen – mit schicksalhaften Folgen: den Fortsetzungen „Before Sunset“ (2004) und „Before Midnight“ (2013).
Anders als bei “Before Sunrise” sind aber die beiden Hauptfiguren von „Abteil Nr. 6“ anfangs einander durch herzliche Abneigung verbunden, wie es die Romanvorlage der Autorin Rosa Liksom vorgibt. Im Kern geht es Regisseur Juho Kuosmanen „um zwei Menschen, die sich irgendwo unterwegs verloren haben und die im Laufe der Reise etwas in ihrem Gegenüber erkennen, dass sie miteinander verbindet.“ Dieses „etwas“ läuft bei diesem ungleichen Paar nicht auf eine Liebesgeschichte, sondern auf eine ungewöhnliche, fragile Freundschaft hinaus.
Nostalgie einer Zeit-Zugreise
Der Plot klingt auf den ersten Blick vielleicht kalkuliert. Umso erstaunlicher wirkt der Charme, den der Film gleich auf mehreren Ebenen versprüht. Regisseur Kuosmanen machte vor fünf Jahren mit seinem Debüt „Der Glücklichste Tag im Leben des Olli Mäki“ über einen finnischen Boxprofi in den 1960er Jahren auf sich aufmerksam. Im Nachfolgefilm versteht er es, das Gefühl emotionaler Vertrautheit, das zwischen den Figuren entsteht, auf das Publikum überspringen zu lassen. Es trägt den Film über weite Strecken, während man Lauras Reise mit ihr und durch ihre Augen erlebt. Dabei ist eine Fotokamera mit gespeicherten Aufnahmen von Irina ihr ständiger Begleiter.
Hintergrund
Lesen Sie hier eine Rezension des Films "Der glücklichste Tag im Leben des Olli Mäki" – finnisches Boxer-Drama von Juho Kuosmanen
und hier ein Interview mit Regisseur Juho Kuosmanen zum Film "Der glücklichste Tag im Leben des Olli Mäki"
und hier eine Besprechung des Films "Before Midnight" von Richard Linklater über die unendliche Liebesgeschichte von Ethan Hawke + Julie Delpy
und hier einen Bericht über den Film "How I Ended This Summer" – brillantes Psycho-Duell-Drama am Polarkreis von Alexej Popogrebsky, prämiert mit drei Silbernen Bären bei der Berlinale 2010.
Schnaps sticht in die Nase
Trotzdem weist der Film einige grobe Mängel auf, sowohl bei den Figuren als auch der dürftigen Handlung. Weder Laura noch Ljoha sind markante Charaktere; nur die Umstände und der enge Raum, in dem sie sich bewegen, sowie die schauspielerischen Fähigkeiten der Darsteller lassen sie halbwegs prägnant wirken. Zudem erscheint ein Ausflug zu einer älteren Bekannten von Ljoha, bei der viel schwarzgebrannter Schnaps geschluckt wird, reichlich unglaubwürdig.
Schließlich verlangt vor allem Ljohas aggressiv antifeministisches Auftreten am Anfang einige Toleranz, um als Zuschauer nicht vorzeitig auszusteigen. Dafür wird man mit schön gefilmten Winterlandschaften belohnt, die schwermütig stimmen können, sowie mit Eindrücken von der klaustrophobische Enge in russischen Nachtzügen. Fast scheint es, als könnte man noch den billigen Wodka riechen, der dort getrunken und verschüttet wurde.