
“Wenn du an die Zukunft denkst, was für Vorstellungen hast du? Wovor hast du Angst? Was macht dich wütend?“ Solche Fragen stellt der Radiojournalist Johnny (Joaquin Phoenix) Kindern im High-School-Alter bei einer Recherchereise durch die USA. Es sind gute Fragen, die den Zuschauer sofort für die Figuren einnehmen, so dass er sich ihnen sogleich nahe fühlt. Das liegt auch an den beiden Protagonisten dieses Schwarzweiß-Films: Johnny wird von Phoenix gewohnt energetisch dargestellt. Seinen neunjährigen Neffen Jesse verkörpert Woody Norman derart glaubwürdig, als würde er gar nicht spielen.
Info
Come on Come on
Regie: Mike Mills,
109 Min., USA 2021;
mit: Joaquin Phoenix, Gaby Hoffmann, Woody Norman
Weitere Informationen zum Film
Bipolarer Dad muss in Klinik
Solche Momente gibt es einige, denn Johnny und Jesse kommen nicht freiwillig zusammen. Jesse lebt mit seiner allein erziehenden Mutter Viv (Gaby Hoffmann) in Los Angeles. Als sie nach Oakland fliegt, um ihren bipolaren Ex-Ehemann zu überzeugen, sich in eine Klinik einweisen zu lassen, bietet ihr in New York lebender Bruder Johnny an, in dieser Zeit für Jesse zu sorgen.
Offizieller Filmtrailer OmU
Onkel + Neffe auf Augenhöhe
Da sich beide kaum kennen, verhalten sie sich in den ersten Tagen etwas distanziert. Johnny muss sich an Eigenheiten seines Neffen gewöhnen; etwa seinen allabendlichen Drang zu seltsamen Rollenspielen vor dem Schlafengehen. Jesse muss sich hingegen mit den Launen eines Ersatz-Vaters arrangieren, der als Endvierziger-Single bisher keine Verantwortung für jemanden getragen hat.
Als Viv länger als geplant in Oakland bleibt und Johnny seinen Neffen auf die Interview-Reise mitnimmt, wächst ihr wechselseitiges Vertrauen. Abends lümmeln sie auf dem Sofa herum, lesen sich gegenseitig vor, springen albernd durch die Wohnung: Szenen voller Zuneigung. So wie Johnny sich den Kids nähert, die er interviewt, begegnet er bald auch seinem Neffen – auf Augenhöhe.
Neffe befragt seinen Onkel
Ähnlich geht auch Regisseur Mills mit seinen Figuren um. Sie wirken nie wie Drehbuch-Konstruktionen, sondern bergen stets unaufgelöste Widersprüche und Überraschungen in sich. Wie eines Abends, als Jesse Johnny Fragen stellt, die den Journalisten sichtlich aus der Bahn werfen: ob er Probleme habe, mit eigenen Emotionen umzugehen. Warum er sich von seiner Freundin getrennt habe, obwohl sie sich noch liebten. Ob er wirklich seiner Schwester Viv geraten habe, ihren Mann Paul zu verlassen, weil er zu krank sei. So weit, so rührend.
Doch alles andere als weinerlich – aus mehreren Gründen. Bevor die Handlung die Schwelle zum Kitsch überschreitet, wird sie von Regisseur Mills auf eine höhere Abstraktionsebene gehoben, indem er die Fallstricke familiärer Beziehungen oder sozialen Folgen psychischer Krankheiten reflektiert. Dann ruft Johnny etwa seine Schwester an, wenn ihn die hermetische Logik des Neunjährigen verzweifeln lässt.
Mutterschaft als ultimativer Sündenbock
Ergänzend ist oft eine Stimme aus dem Off zu hören, die theoretische Texte zitiert. Etwa eine Definition der Autorin Jacqueline Rose, bekannt für ihre Schriften über Feminismus und Psychoanalyse: „Mutterschaft ist der ultimative Sündenbock für unser persönliches und politisches Versagen; für alles, was mit der Welt nicht stimmt – und es wird zur Aufgabe der Mütter, das zu reparieren“. In dieser Rolle findet sich Johnny selbst für kurze Zeit wieder, wenn er Jesses Wutausbrüche oder Traurigkeit ausgleichen soll; wobei er stets scheitert, wenn auch mit Humor.
Hintergrund
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Auf Tonspur reden, im Bild schreien
Sehr eindrucksvoll ist auch eine Szene, in der die Geschwister zum ersten Mal seit einem Jahr telefonieren: auf der Tonspur läuft ihr Dialog, während Rückblicke zu sehen sind, bei denen sie sich heftig streiten. Visuell schreien sich die beiden an, akustisch sprechen sie versöhnlich miteinander. Mike Mills überlässt offenkundig nichts dem Zufall; jeder Schnitt sitzt, alles ist akribisch durchkomponiert.
Nur eines überzeugt nicht so recht: Jesse, der sich immer mehr von seiner trübseligen familiären Situation emanzipiert, wirkt gelegentlich ein bisschen zu schlau für sein Alter. Kann ein Neunjähriger wirklich die Neurosen seines Onkels derart eloquent analysieren wie in diesem Film? Vielleicht repräsentiert er aber – wie andere Heranwachsende, die Jonny befragt – eine smartere Generation; sie weiß, dass sie nur dann ihre Chancen auf eine bessere Zukunft wahrt, wenn sie aufmerksam die Fehler der Gegenwart angeht.