München

Fantastisch Real – Belgische Moderne von Ensor bis Magritte

James Ensor (1860–1949): Die Intrige, 1890, 91,5 × 150 cm, Öl auf Leinwand. Königliches Museum für Schöne Künste Antwerpen Sammlung KMSKA – Flämische Gemeinschaft (CC0), Foto: Hugo Maertens
Die vielfältige Kunst im westlichen Nachbarland von James Ensor bis René Magritte vorzustellen, ist verdienstvoll. Allerdings präsentiert die Kunsthalle sie recht eigenwillig: mit Leihgaben vor allem aus Antwerpen – samt Schwerpunkten und Auslassungen, die teils fragwürdig erscheinen.

Unbekanntes Nachbarland im Westen: Über Belgien, etwa so groß wie Brandenburg, wissen die Deutschen wenig. Brüssel und die EU-Bürokratie, Waffeln und Pommes frites, Pralinen und Kirschbier; das war’s meist. Bei der Kulturgeschichte sieht es etwas besser aus; immerhin war Flandern die Geburtsstätte der europäischen Ölmalerei. Jan van Eyck, Pieter Bruegel, Peter Paul Rubens sowie die pittoresken Stadtkerne von Brügge und Gent sind allen Kunstfreunden geläufig.

 

Info

 

Fantastisch Real – Belgische Moderne von Ensor bis Magritte

 

15.10.2021 - 06.03.2022

täglich 10 bis 20 Uhr

in der Kunsthalle München, Theatinerstraße 8

 

Katalog 32 €

 

Weitere Informationen

 

Doch Kenntnisse der modernen belgischen Malerei beschränken sich häufig auf die beiden Namen, die sich auch im Titel dieser Ausstellung finden: James Ensor (1860-1949), der „Maler der Masken“, und René Magritte (1898-1967), ungekrönter Poster- und Postkarten-König der Surrealisten. Dass neben diesen beiden Zugpferden viele weitere belgische Künstler eine bemerkenswerte stilistische Vielfalt hervorgebracht haben, ist kaum bekannt.

 

Fünftgrößtes Industrieland um 1900

 

Ihr Schaffen war deshalb besonders rege, weil die junge Nation sich kreativ konsolidieren und behaupten wollte. Erst 1830 durch die Abspaltung von den Niederlanden entstanden, erlebte Belgien in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts dank Walloniens Stahl- und Kohlebergwerken einen stürmischen Aufschwung. Um 1900 war es die fünftgrößte Industrienation der Welt. Bürgerlicher Wohlstand beförderte die Nachfrage nach Kunst; zugleich löste die Verarmung von Arbeitern und Bauern heftige soziale Kämpfe aus.

Feature zur Ausstellung. © Kunsthalle der Hypo-Kulturstiftung, München


 

Überakzentuiertes + Vernachlässigtes

 

Diese Ausstellung nimmt sich viel vor: Sie will die ganze thematische und formale Bandbreite der belgischen Kunst von etwa 1860 bis 1960 vorstellen. Allerdings stammen die rund 130 präsentierten Werke – vor allem Gemälde und Skulpturen – größtenteils aus dem „Koninklijk Museum voor Schone Kunsten Antwerpen“ (KMSKA), das derzeit renoviert wird; plus ein paar andere Leihgaben. Das hat Vor- und Nachteile: Einerseits verfügt das Museum über eine erstklassige Sammlung, darunter die meisten Werke von James Ensor weltweit.

 

Andererseits ist auch das KMSKA in manchen Bereichen etwas dürftig bestückt, was nicht verwundert: Welcher hiesige Museumsfundus könnte 100 Jahre deutsche Kunst lückenlos abdecken? Indem sich diese Schau fast ausschließlich auf die Bestände des Antwerpener Hauses stützt, übernimmt sie dessen Stärken und Schwächen: Manche Epochen und Einzelkünstler werden überakzentuiert, andere eher vernachlässigt.

 

Frühneuzeit-Markt mit Kongo-Schwarzen

 

Der Auftakt könnte prunkvoller kaum sein: Ölskizzen von Nicaïse De Keyser, deren Monumentalausführung bis heute die Kunsthochschule von Antwerpen schmückt, verdeutlichen 1864 den Geltungsanspruch der Stadt. Ihre Allegorie thront in der Mitte und verteilt huldvoll Lorbeerkränze, umgeben von Genies der Vergangenheit. Die Orientierung des belgischen Historismus am „Goldenen Zeitalter“ des 17. Jahrhunderts entsprach aber mehr seiner Fantasie als der Realität.

 

Auf dem „Freien Jahrmarkt“, den Albrecht de Vriendt 1900 malt, tummeln sich unter etlichen frühneuzeitlichen Gestalten auch einige Dunkelhäutige. Das wäre um 1500 oder 1600 kaum möglich gewesen, wohl aber zur Lebenszeit des Malers: 1885 hatte König Leopold den Kongo als „Privatbesitz“ erworben. Seine Ausbeutung war derart brutal und die Empörung darüber europaweit so groß, dass er ihn 1908 an den belgischen Staat abtreten musste. Diese rabenschwarze Vergangenheit wird nur anfangs kurz erwähnt; danach kommt sie nicht mehr vor.

 

Was dem Schema trotzt, wird ignoriert

 

Fantasie und Realität seien in Belgien enger miteinander verflochten als andernorts, lautet die Hauptthese von Kuratorin Nerina Sartorius: wegen eines unüberwindbaren Dualismus, der schon das Verhältnis die beiden Landesteile Flandern und Wallonien prägt. Als Gewährsmann dient ihr der Publizist Edmond Picard; er definierte 1887 die ästhetische Kategorie des „realen Fantastischen“ („fantastique réel“). Ein verführerisches Kompositum; der Versuch, darunter sämtliche Strömungen von 1860 bis 1960 zu fassen, wirkt aber stellenweise recht gezwungen.

 

Vieles, was sich diesem Schema nicht fügt, wird ignoriert oder recht einseitig dargestellt. So ist Henry van de Velde (1863-1957), der produktivste und wirkmächtigste belgische Jugendstil-Künstler und -Designer, nur mit zwei impressionistischen bzw. pointillistischen Frühwerken präsent. Weil er seine größten Erfolge ab 1900 in Deutschland feierte? Dagegen wird der belgische Symbolismus, seiner Bedeutung entsprechend, ausführlich gewürdigt. Einer seiner Hauptvertreter, George Minne, taucht aber erst im Abschnitt über sozial engagierten Realismus auf – weil sein überlebensgroßer Bronzekopf hier besser hinpasst.

 

Karnevals-Kosmos + Industrie-David

 

Anders als die Generalthese vom realfantastischen Dualismus suggeriert, stehen die einzelnen Sektionen beziehungslos nebeneinander; sie lassen sich eben nicht voneinander ableiten. Manchmal werden sie dadurch geradezu definiert, etwa im Saal zum großen Einzelgänger James Ensor. Er verabschiedete sich von einem provokant lockeren Naturalismus um 1890 in seinen grellbunt-grotesken Karnevalskosmos der Masken – und schuf zugleich diffus religiöse Allegorien mit verstörend fahriger Formgebung. Warum Ensor zweigleisig fuhr, bleibt unklar.

 

Hintergrund

 

Lesen Sie hier eine Rezension der Ausstellung "Dekadenz und dunkle Träume - Der belgische Symbolismus" - hervorragende Epochenschau in der Alten Nationalgalerie, Berlin

 

und hier eine Besprechung der Ausstellung "Magritte - Der Verrat der Bilder" - Werkschau des belgischen Surrealisten in der Schirn Kunsthalle, Frankfurt am Main

 

und hier einen Bericht über die Ausstellung "Leidenschaft, Funktion und Schönheit" über "Henry van de Velde und seinen Beitrag zur europäischen Moderne" im Neuen Museum, Weimar

 

und hier einen Beitrag über die Ausstellung "Jan Toorop" - eindrucksvolle Retrospektive des niederländischen Symbolisten in der Villa Stuck, München.

 

Dennoch wirkt dieser Raum ebenso gelungen wie der zum sozialen Realismus, den Constantin Meunier (1831-1905) dominiert. Seine mitreißend wuchtigen Arbeiter-Porträts auf Gemälden und als Bronzeskulpturen sind hierzulande ohne Gleichen; als hätte Arno Breker Entwürfe von Heinrich Zille und Käthe Kollwitz in Erz gegossen. Meunier verleiht Malochern unerschütterliche Würde: Sein mehr als zwei Meter hoher „Hafenarbeiter von Antwerpen“ erscheint wie Michelangelos David für das Industriezeitalter.

 

Viel Platz für Zweitklassiges

 

Solche in sich schlüssigen Räume wechseln ab mit unausgewogenen bis entbehrlichen. Die originelle Zusammenstellung abstrakter und konstruktivistischer Künstler ist in ein kleines Seitenkabinett abgeschoben. Stattdessen wird der fade Mystizismus der ersten Malergeneration von Sint-Martens-Latem, einem Künstlerdorf wie Barbizon oder Worpswede, in einem geräumigen Saal ausgebreitet.

 

Noch fragwürdiger scheint, ebenso mit den beliebig bunten Großformaten von Rik Wouters (1882-1916) zu verfahren. Weil sein tragischer Tod an Augenkrebs den Mythos vom Frühvollendeten befördert? Oder weil das KMSKA eine stattliche Kollektion besitzt? Ähnlich verkürzt ist die Sicht auf den belgischen Surrealismus: Diese Bewegung scheint fast nur aus zwei Künstlern zu bestehen, nämlich Magritte und Paul Delvaux (1897-1994), mit einem Annex aus ziemlich albernen Collagen von Paul Joostens.

 

Nach Brüssel statt Antwerpen

 

Natürlich muss, wer eine Ausstellung über die Kunst einer Nation im Lauf von 100 Jahren komponiert, radikal aussieben. Jede Strömung und jeder Künstler kann nur wenige exemplarische Werke beisteuern. Doch gerade wegen dieses Zwangs zum Beispielhaften sollte die Auswahl umso gewissenhafter sein, sonst wird sie unausgewogen und tendenziös. Wer die belgische Moderne in ihrer ganzen Bandbreite kennen lernen will, der sollte statt nach Antwerpen nach Brüssel reisen: zum „Musées royaux des Beaux-Arts de Belgique“.