Céline Sciamma

Petite Maman – Als wir Kinder waren

Nelly (Josephine Sanz) und Marion (Gabrielle Sanz) stehen vor Marions Baumhaus. Foto: © Alamode Film
(Kinostart: 17.3.) Aufregendes Gedankenspiel: Was wäre, wenn man seinen Eltern begegnen könnte, als diese noch Kinder waren? Regisseurin Céline Sciamma inszeniert in ruhigen, detailreichen Bildern eine eigenwillige Zeitreise ohne Anklänge an Science Fiction.

Am Anfang steht ein Abschied. Die achtjährige Nelly (Joséphine Sanz) läuft einen Korridor mit vielen Türen entlang. In jeden Raum ruft sie freundliches „Au Revoir“ hinein. Aus dem letzten Zimmer grüßt jedoch kein alter Mensch zurück: Dort packt Nellys Mutter (Nina Neurisse) die Sachen der verstorbenen Großmutter zusammen. Während ihre Eltern mit Entrümpeln beschäftigt sind, durchstreift Nelly die umliegenden Wälder.

 

Info

 

Petite Maman – Als wir Kinder waren

 

Regie: Céline Sciamma,

73 Min., Frankreich 2021;

mit: Gabrielle Sanz, Joséphine Sanz, Nina Meurisse, Stéphane Varupenne

 

Weitere Informationen zum Film

 

Eines Morgen ist ihre Mutter verschwunden. Ihr Elternhaus auszuräumen, hat sie offenbar an ihre emotionalen Grenzen gebracht. Nelly und ihr Vater (Stéphane Varupenne) scheinen nicht sehr zuversichtlich, sie bald wiederzusehen. Die psychischen Probleme der Mutter und manches mehr werden in diesem subtilen Märchen allerdings eher leise angedeutet.

 

Feststecken in der Zeitschleife

 

Während sich ihr Vater sich weiter um das Haus kümmert, trifft Nelly im Wald auf die gleichaltrige Marion (Gabrielle Sanz). Das Mädchen spannt sie umgehend ein: Nelly soll mit ihr eine Hütte im Wald bauen – so wie es einst ihre Mutter getan hatte wie Nelly aus Erzählungen weiß. Als die beiden vor einem Gewitter zu Marion nach Hause flüchten, wird Nelly endgültig klar, dass es sich bei ihrer neuen Freundin um ihre eigene Mutter handelt – im Kindesalter. Und dass sie in einer Zeitschleife steckt.

Offizieller Filmtrailer


 

Wald als Zeitreiseportal

 

Das Haus ist nämlich dasselbe, das ihr Vater gerade ausräumt – nur eben bewohnt. Nach dem ersten Schreck, der sie zurück in die Gegenwart fliehen lässt, bewegt Nelly sich fortan wie selbstverständlich zwischen den Zeitebenen hin und her. Als Portal zwischen Vergangenheit und Gegenwart fungiert der herbstliche Wald – passend zu den restlichen Schauplätzen dieser Zeitreise, die so gar nichts von Science-Fiction hat. Vielmehr prägt ein dezenter magischer Realismus diesen Film.

 

Marion, die bald schon von Nelly eingeweiht wird, nimmt gelassen zur Kenntnis, dass sie ihre künftige Tochter vor sich hat. Fortan verbringen die beiden jede freie Minute zusammen; es entspinnt sich ein zauberhaftes Miteinander. Regisseurin Céline Sciamma, von der auch das Drehbuch stammt, inszeniert das aber nicht als utopische Weltflucht. Schwere Themen haben durchaus ihren Platz in dieser angenehm pathosfreien Geschichte.

 

Tröstliches Wissen aus der Zukunft

 

Den beiden Mädchen, die von Zwillingsschwestern gespielt werden, gelingt es, einander Trost zu spenden. Marion etwa fürchtet sich vor einem bevorstehenden orthopädischen Eingriff, der ihr ersparen soll, bereits in jungen Jahren am Stock zu gehen. Ihre Tochter kann sie beruhigen; in diesem Punkt hat sie ja einen Wissensvorsprung. Sie dagegen treibt die Sorge um, dass die psychischen Probleme ihrer Mutter mit ihr zu tun haben. Doch Marion stellt resolut klar: „Du hast nicht meine Traurigkeit erfunden“.

 

Meist jedoch ist das Zusammensein der beiden einfach nur ausgelassen. Sie backen zusammen, spielen einen ausgedachten Krimi durch und stellen sich eine Puppe als gemeinsames Kind vor. Dass das Leben selbst immer auch ein Rollenspiel ist, schwingt in dieser eigenwilligen Mutter-Tochter-Beziehung stets mit. Irgendwann begleitet Marion Nelly sogar in die Gegenwart.

 

Durchbruch mit Frauen-Porträt in Flammen

 

Regisseurin Céline Sciamma erlebte 2019 ihren Durchbruch mit dem schwelgerischen Liebesdrama „Porträt einer jungen Frau in Flammen“. Zuvor hatte sie sich ausgiebig mit der Gedankenwelt von Heranwachsenden beschäftigt. Ihre Coming-of-Age-Trilogie – „Water Lilies“ (2007), „Tomboy“ (2011) und „Bande de Filles – Girlhood“ (2014) – tauchte in unterschiedliche Lebenswelten ein; gemeinsamer Nenner dieser Filme waren queere oder feministische Untertöne.

 

Hintergrund

 

Lesen Sie hier eine Rezension des Films "Porträt einer jungen Frau in Flammen" - wunderbar nuancierter Historienfilm über lesbische Affäre von Céline Sciamma 

 

und hier eine Besprechung des Films "Bande de Filles – Girlhood" - Gruppen-Porträt farbiger Teenager in der Pariser Banlieue von Céline Sciamma

 

und hier einen Beitrag über den Film "Meine Tochter – Figlia Mia" - provokantes italienisches Familien-Drama von Laura Bispuri mit Alba Rohrwacher.

 

„Petite Maman“ ist in gewisser Weise eine Rückkehr zum eher spröden Stil ihrer früheren Arbeiten, aber mit einem engeren, sozusagen privaten Fokus. Diese wahrhaft intime Geschichte löst beim Zuschauer fast zwangsläufig Gedankenspiele aus: Wie wären meine Eltern, wenn sie mein Alter hätten? Was, wenn ich nicht ihr Kind wäre, sondern Freund oder Freundin – und ihnen auf Augenhöhe begegnen würde?

 

Mehr Sogkraft wäre besser

 

Das Spiel der beiden Hauptdarstellerinnen wirkt natürlich, zugleich aber auch ungelenk und entrückt – und damit der schrägen Situation, in der sich die Mädchen befinden, durchaus angemessen. Bei den Dreharbeiten wurde der spontanen Improvisation der Schwestern viel Raum gegeben.

 

Bisweilen jedoch verlässt sich die Regisseurin sehr auf die simple Brillanz ihrer Grundidee; die Handlung könnte durchaus etwas mehr Sogkraft vertragen. So gilt es, sich auf ruhige Bilder einzulassen, deren Details weite Resonanzräume eröffnen.

 

Grenzen der Elternschaft

 

Heutige Eltern verstehen sich oft als beste Freunde ihrer Kinder – und stoßen mit diesem Wunsch nicht selten an Grenzen. Zumindest in Form eines Gedankenspiels – das zeigt dieser besondere Film – kann eine solche Freundschaft durchaus erhellend sein.