München

Shirin Neshat – Living in one land, dreaming in another

Werke aus der Serie „Land of Dreams“, 2019. © Shirin Neshat. Foto: Bayerische Staatsgemäldesammlungen, Haydar Koyupinar
Verirrt im Traumland: Die exiliranische Künstlerin Shirin Neshat zeigt eine Multimedia-Großinstallation in der Pinakothek der Moderne. Doch überdekorierte Schwarzweiß-Porträts und dunkel raunende Videoprojektionen bebildern vor allem ihre privaten Obsessionen.

Back in black: Shirin Neshat ist nicht nur stets in Schwarz gewandet; ihr Markenzeichen sind auch dicke schwarze Kajalstriche um die Augen. Nun hat die exiliranische Künstlerin eine düster schillernde One-Woman-Show in der Pinakothek der Moderne – mit ausschließlich schwarzweißen Werken.

 

Info

 

Shirin Neshat - Living in one land, dreaming in another

 

26.11.2021 - 24.04.2022

täglich außer montags

10 bis 18 Uhr

in der Pinakothek der Moderne, München

 

Weitere Informationen

 

“Living in one land, dreaming in another” besteht aus der Multimedia-Großinstallation “Land of Dreams” – nicht zu verwechseln mit ihrem gleichnamigen, zweistündigen Kinofilm. Er feierte seine Premiere im September 2021 bei den Filmfestspielen von Venedig und ist leicht von der Kunst-Version zu unterscheiden: Der Spielfilm wurde in Farbe gedreht. Die nur 24-minütige Produktion in der Pinakothek ist dagegen eine Zwei-Kanal-Videoprojektion in Schwarzweiß.

 

Fotos in Petersburger Hängung

 

Bevor man sie zu Gesicht bekommt, betritt man jedoch eine sehr spezielle Porträtgalerie. Auf drei Wände sind saalhoch insgesamt 111 Fotografien verschiedenster Formate verteilt, von postkarten- bis überlebensgroß. In „Petersburger Hängung“, d.h.: wild durcheinander. Ihre Anordnung scheint keinem nachvollziehbaren Prinzip zu folgen; weder nach Geschlechtern noch Ethnien oder Altersgruppen.

Engl. Feature über Shirin Neshat + "Land of Dreams"; © Tate Gallery


 

Poor multi-ethnic trash

 

Alle Porträtierten blicken den Betrachter an. In verschiedenen Körperhaltungen; teils hochgeschlossen gekleidet, teils halbnackt. Etliche zeigen üppige Tätowierungen auf Armen und Oberkörpern vor. Was sie trotz aller Unterschiede eint, sind Spuren eines aufreibenden Daseins; gezeichnet von einem harten Leben. Poor white trash nennt man in Amerika weiße Prekariats-Angehörige – Neshat hat in US-Kleinstädten poor multi-ethnic trash fotografiert.

 

Jede Aufnahme wurde vor einem neutralen Hintergrund gemacht, der mal heller, mal dunkler erscheint. Manche davon hat die Künstlerin anschließend dekoriert: mit Kalligraphie in arabischer Schrift oder Umrisszeichnungen, die frühneuzeitlicher europäischer oder persischer Buchmalerei entsprungen sein könnten. Einige zeigen drastische Szenen, doch ob sie irgendeinen Bezug – und falls ja: welchen – zu den Porträtierten haben, bleibt unklar.

 

Willkürliche Schrift-Bild-Kombination

 

Kalligraphie spielt in Neshats Werk seit jeher eine zentrale Rolle. Berühmt wurde sie mit der Werkserie „Women of Allah“ (1993-1997): Für diese Fotoserie bedeckte sie Körperteile islamischer Frauen im Tschador mit geschriebenen Versen. Die kunstvoll angeordneten Zeilen fungierten gleichsam wie ein zweiter Schleier – in dessen Schutz manche Damen Waffen auf den Betrachter richteten. War damals der Zusammenhang von Schrift und Bild vielsagend deutlich, gilt das für die 111 US-Porträts nicht mehr: Diese Kombination wirkt willkürlich.

 

Erstmals habe sie sich in “Land of Dreams” mit der Lebenswirklichkeit in ihrer Exilheimat künstlerisch auseinandergesetzt, sagt Neshat. Dort wohnt sie seit 1979, doch wirklich angekommen scheint sie nicht. Das suggeriert ihr Zwei-Kanal-Videofilm, der im Anschluss an die Porträtgalerie gezeigt wird. Die Protagonistin Simin – natürlich schwarz gekleidet und unschwer als alter ego von Neshat zu erkennen – gibt sich als Kunststudentin aus, um Vorort-Bewohner nach ihren Träumen auszufragen.

 

Alpträume für Iran-Agenten

 

Allesamt erweisen sie sich als Alpträume: Eine Kitschliebhaberin fürchtet, streunende Kinder könnten ihr Heim verwüsten. Ein Ex-Militär träumt von Atombomben-Abwürfen. Eine Indigene jagt durch ein Labyrinth ihrer Tochter hinterher. Und eine Bettlägerige ist zu matt, um sinnvoll zu antworten – stattdessen hetzt Simin durch verlassene Fabrikhallen, während von Vertreibung die Rede ist.

 

Im zweiten Kanal wird Simins wahre Identität enthüllt: Sie sammelt Traum-Aufzeichnungen für eine iranische Spionageeinheit, die im Inneren eines Berges haust. Dort werden die Daten von einer kafkaesken Bürokratie ausgewertet, vor der sich die Protagonistin in einer Art Schauprozess verantworten muss.

 

Pappkameraden in Groß-Parabel

 

Hintergrund

 

Lesen Sie hier eine Rezension des Films "Body of Truth" - Dokumentation über Shirin Neshat und drei weitere Künstlerinnen von Evelyn Schels

 

und hier eine Besprechung des Films "Auf der Suche nach Oum Kulthum" – komplexes Dokudrama über Ägyptens berühmteste Sängerin von Shirin Neshat

 

und hier ein Interview mit Shirin Neshat über ihren Film "Auf der Suche nach Oum Kulthum"

 

und hier einen Beitrag über die Ausstellung "Hinter dem Vorhang" über "Verhüllung und Enthüllung seit der Renaissance" mit der Fotoserie "Women of Allah" von Shirin Neshat im Kunstpalast, Düsseldorf

 

und hier einen Bericht über die Ausstellung "Hanna Schygulla – Traumprotokolle" mit von ihr verfilmten Träumen in der Akademie der Künste, Berlin.

 

Das klingt nicht nur bleiern, sondern sieht auch so aus: Wie stets in Neshats Filmen, etwa „Women without Men“ (2009) und „Auf der Suche nach Oum Kulthum“ (2017), sind sämtliche Szenen ausgefeilt komponiert, mit delikat verteilten Hell- und Dunkelwerten – doch diesmal zugleich mit Symbolen vollgestopft. Alle Details künden raunend von höchster Bedeutsamkeit. Aus dieser überkodierten Groß-Parabel ist jede Natürlichkeit gewichen; darin bewegen sich die Darsteller wie animierte Pappkameraden.

 

Nun haben sich an Träumen als Filmthema schon ganz andere Kinoprofis verhoben. Man denke an die irrlichternden „Traumprotokolle“, die Hanna Schygulla 2014 in Berlin präsentierte. Oder das verquaste dreistündige Science-Fiction-Drama „Bis ans Ende der Welt“ über Traum-Junkies, das Wim Wenders 1991 mit Jeanne Moreau verfertigte. Die Ursache für solche Fehlschläge liegt nahe: Im Reich der Träume sind irdische Gesetze und Zwänge aufgehoben. Anything goes – da werden die Resultate rasch beliebig.

 

Nabelschau 2.0

 

In diese Falle tappt auch Neshat: Ihr „Traumland“ existiert nicht nur allein in ihrem eigenen Kopf. Dort geschieht auch ausschließlich, was sie persönlich beschäftigt. Doch die Bebilderung von privaten Obsessionen ist meist wenig anschlussfähig: Was mit dem Gestus existentieller Dringlichkeit vorgeführt wird, wirkt auf Außenstehende entweder hermetisch oder arg kunstgewerblich.

 

Wie diese Zurschaustellung west-östlicher Zerrissenheit in Schwarzweiß – bald auf der Leinwand in farbiger Langfassung mit Weltstars wie Matt Dillon und Isabella Rossellini. Und einer anderen Volte: Jetzt erfasst eine US-Behörde die Träume ihrer Bürger, um sie zu überwachen. Dem widersetzt sich Simin, indem sie deren Inhalte nachspielt und im Internet veröffentlicht. Nabelschau 2.0: Vielleicht sollte Shirin Neshat ihre Mitmenschen künftig nicht nur ablichten, sondern sich auch näher mit ihnen beschäftigen.