Pouya Eshtehardi

Untimely

Der junge Soldat Hamin (Iman Afshar) wird vom Hauptmann (Mousa Afshar, re.) gemaßregelt. Foto: déjà-vu film
(Kinostart: 10.3.) Rauchen gefährdet Ihre Gesundheit: Weil er im Wachdienst qualmt, wird ein iranischer Rekrut vom Offizier gemaßregelt – mit fatalen Folgen. In seinem Debütfilm schildert Regisseur Pouya Eshtehardi das Leben in der iranischen Unterschicht; mit faszinierend originellen filmischen Mitteln.

Ein gewöhnlicher Tag im Wehrdienst des Soldaten Hamin (Iman Afshar): Uniform anlegen, Waffe laden, sich in der Kaserne beim Vorgesetzten (Mousa Afshar) melden. Er hat Urlaub beantragt, um an der Hochzeit seiner Schwester teilzunehmen, doch der Hauptmann lehnt ab – weil Hamin im Dienst geraucht hat. Dann muss er seinen Posten beziehen: einen rostigen Wachturm auf der Landzunge zwischen einer Bucht voller Boote und einer Steilküste.

 

Info

 

Untimely

 

Regie: Pouya Eshtehardi,

78 Min., Iran 2020;

mit: Shayan Afshar, Iman Afshar, Mahsa Narouyi, Awa Azarpira

 

Weitere Informationen zum Film

 

Die spektakuläre Aussicht lässt den Rekruten kalt; frustriert steckt er sich die nächste Kippe an. Was der Hauptmann auf Kontrollgang bemerkt: Ein Wort gibt das andere; der Streit wird zum Handgemenge, das der Offizier nicht überlebt. Hastig zerrt Hamin die Leiche in eine Höhle und will sie verscharren, doch das Gestein ist zu hart. Also bezieht er wieder seine Stellung in luftiger Höhe.

 

Sprunghaft + radikal subjektiv

 

Damit endet die so fatale wie banale Rahmenhandlung. Was folgt, sind die Bilder in Hamins Kopf: Erinnerungen an seine Kindheit mit seiner Schwester, dem Vater und ihrem Umfeld. Radikal subjektiv, sprunghaft und vage chronologisch fügen sie sich für den Zuschauer ganz allmählich zur Studie eines Milieus zusammen: der Unterschicht im trockenen Grenzland von Südostiran und Westpakistan.

Offizieller Filmtrailer OmU


 

Nah an Details oder auf Hüfthöhe

 

Der Küstenstreifen am Golf von Oman erscheint grandios unwirtlich: Meeresbrandung schäumt an Klippen, staubige Straßen schlängeln sich durch zerklüftete Gebirgsketten. Ein so lebensfeindlicher wie erhabener Anblick, in dem der Film mit ausgiebigen Drohnenflügen schwelgt. Ansonsten bleibt die Kamera sehr nah an den Personen, fast schon aufdringlich nah: Sie fixiert oft einzelne Körperteile – Hände, Füße und Augen – oder alltägliche Details wie Teegläser und Shisha-Pfeifen.

 

Bevor das zu manieriert und bedeutungshubernd wirken könnte, kriegt Regisseur Pouya Eshtehardi jedes Mal die Kurve. Indem er etwa die Kamera auf Hüfthöhe durch die Gegend wandern lässt, wodurch die Akteure anonym werden, aber ihre Aktionen umso prägnanter hervortreten – wie ein Kind sie sieht. Passenderweise machen Hamins Erinnerungen an sein Leben als ungefähr zwölfjähriger Junge (Shayan Afshar) den längsten Teil des Films aus.

 

Gesichter erzählen mehr als Sätze

 

Damals wuchsen er und seine jüngere Schwester Mahin als ungeliebte Ziehkinder beim Kapitän und seiner Frau auf. Anstatt wie sie zur Schule gehen zu dürfen, musste er als Hausierer Kleinkram auf dem Basar verkaufen. Eines Tages brannte er durch, um seinen Vater (Ayoub Afshar) im pakistanischen Grenzland zu suchen; der verdingte sich dort als Schmuggler, indem er Waren auf Schleichpfaden in den Iran brachte. Und bei einer dieser Touren seinem Sohn das Rauchen beibrachte – wie es sich für einen Mann gehört.

 

Hintergrund

 

Lesen Sie hier eine Rezension des Films "Ballade von der Weißen Kuh" - iranisches Schuld-und-Sühne-Drama über Todesurteile von Maryam Moghadam + Behtash Sanaeeha

 

und hier eine Besprechung des Films "Doch das Böse gibt es nicht" - beklemmender Episodenfilm über die Todesstrafe von Mohammad Rasoulof, prämiert mit Goldenem Bären 2020

 

und hier ein Beitrag über den Film "Yalda" - packendes Reality-TV-Drama aus dem Iran über Schulderlass für Todgeweihte von Massoud Bakhshi.

 

und hier einen Bericht über den Film "A Man of Integrity – Kampf um die Würde" - komplexes Korruptions-Drama im Iran von Mohammad Rasoulof.

 

Diese verkrachten Familienverhältnisse mögen, in wenigen Sätzen aufgezählt, ebenso trivial erscheinen wie die Allerweltsorte, die der Film aufsucht: schäbige Hütten und Gassen, Marktbuden und Garküchen. Regisseur Eshtehardi setzt sie wie ein Puzzle zusammen; dadurch werden sie zum eindringlichen Einblick in eine unbekannte Welt: Asiens Armenviertel, in denen faltige Gesichter mehr erzählen als die kurzen Sätze, die sie ausspucken.

 

Kein weiterer Mittelklasse-Autorenfilm

 

Und in denen Rituale wie Glücksspiel, Hochzeit oder auch Exorzismus das kollektive Dasein bestimmen. Das zeigt der Regisseur mit Stilmitteln, die heutzutage eher selten eingesetzt werden: von Unterwasseraufnahmen über Fischaugen-Optik bis zu Mehrfach-Überblendungen. Alles vermittelt den Eindruck sinnlicher Überwältigung stärker, als Worte es je könnten – die den Beteiligten ohnehin kaum zu Gebote stehen. Bis hin zum Feuertod.

 

Was „Untimely“ auszeichnet: kein weiterer iranischer Mittelklasse-Autorenfilm zu sein, dessen kultivierte Protagonisten moralische Probleme in wohlgesetzten Dialogen abhandeln. Sondern ein gelungener Versuch, die Erlebniswelt des sprachlosen Prekariats auf die Leinwand zu bringen – mit faszinierenden filmischen Mitteln.

 

Studium in Iran + Malaysia

 

Dass Eshtehardi sie in seinem Spielfilmdebüt so originell wie virtuos einsetzt, könnte auch daran liegen, dass er Film im Iran und in Malaysia studiert hat, also außerhalb des konventionell westlichen Kino-Kosmos. Wir dürfen ihn uns jedenfalls als überzeugten Nichtraucher vorstellen.