Florence Miailhe

Die Odyssee

Adriel und Fiona wissen nicht, wie es weiter gehen soll. Foto: Grandfilm
(Kinostart: 28.4.) Flucht als ewige Menschheits-Erfahrung: Regisseurin Florence Miailhe schildert die Suche zweier Geschwister nach einem sicheren Ort als zeitlose Parabel. Dafür nutzt sie eine einzigartige Technik – die Künstlerin malt jedes Einzelbild mit Ölfarben auf Glas.

Home is where the heart is – doch wahrscheinlich ist Sesshaftigkeit in the long run mehr Illusion als Normalzustand. Denn die Menschheit bleibt seit ihren Anfängen stets in Bewegung. Seltener aus Neugier, was wohl hinter dem Horizont liegen mag; viel häufiger auf der Suche nach Nahrungsquellen oder einem Ort, wo man in Frieden leben kann – bis der nächste Konflikt oder eine Naturkatastrophe zum Weiterziehen nötigt.

 

Info

 

Die Odyssee

 

Regie: Florence Miailhe,

84 Min., Frankreich/ Deutschland/ Tschechien 2021;

gesprochen von Hanna Schygulla

 

Weitere Informationen zum Film

 

Die halbwüchsigen Geschwister Kyona und Adriel verlassen ihr idyllisches Dorf jedenfalls nicht freiwillig. Überfälle brutaler Milizen lassen sie gemeinsam mit ihren Eltern und Geschwistern das Weite suchen. Die Familie will zu Verwandten jenseits der Grenze; dort soll das Leben besser sein. Daher heißt der Film in der französischen Originalversion „La Traversée“, also „Die Überfahrt“. Für die Jugendlichen wird sie zur Irrfahrt ins Ungewisse.

 

Vom Menschenhändler verkauft

 

Bei einer Razzia werden sie von der übrigen Familie getrennt; danach müssen sich Kyona und Adriel auf eigene Faust durchschlagen. Sie landen bei einer Bande von Straßenkindern; später werden sie von einem Menschenhändler an ein reiches, kinderloses Paar verkauft. Dort sind die Geschwister zwar materiell versorgt, müssen aber ihre alten Identitäten ablegen, um ihre neuen Stiefeltern zufrieden zu stellen.


Offizieller Filmtrailer


 

Mein Herz wird zum Sieb

 

Bald fliehen beide aus diesem goldenen Käfig, verirren sich aber im eisigen Winterwald. Ein pittoresker Wanderzirkus und ein grausam hartes Gefangenenlager sind weitere Stationen. Es wird noch lange dauern, bis das Duo Sicherheit findet. Ihre unfreiwillige Reise wird zur Kette von Abschieden und Neuanfängen. „Mein Herz ist zu einem Sieb geworden, ständig verliere ich Menschen auf dem Weg,“ kommentiert Kyona mit poetischer Klarsicht.

 

„Die Odyssee“ wird aus der Rückschau erzählt. Als roter Faden dient Kyonas Skizzenbuch, in dem sie Menschen und Landschaften festhält; sie rettet es als einzige materielle Verbindung zu ihrem alten Leben. Dagegen sind die Zeit und wechselnden Orte bewusst vage gehalten. Es gibt Züge, Autos und Gewehre, aber weder Mobiltelefone noch reale Landkarten. Die Protagonisten bilden eine bunt zusammengewürfelte Schar aus aller Herren Länder. Das verdeutlicht: Diese Geschichte kann überall und jederzeit geschehen.

 

Im Frühlings-Bad zur Frau werden

 

Emotionale Härten werden durch eine kräftige Dosis von magischem Realismus abgefangen. So verbringt Kyona einen Winter in einem verwunschenen Wald bei einer Frau, die an eine Hexe erinnert. Beim ersten Frühlings-Bad im Teich wird aus dem Mädchen plötzlich eine junge Frau. Zuvor haben sich Straßenkinder in Raben verwandelt, wenn sie auf Beutezug gehen. Überhaupt spielen Vögel als Symbole für Freiheit eine herausgehobene Rolle im Film.

 

Hintergrund

 

Lesen Sie hier eine Rezension des Films "Ruben Brandt" - raffiniert fantasievoller Animationsfilm über Kunstsammler von Miroslav Krstić

 

und hier eine Besprechung des Films "Sohn der weißen Stute" - psychedelischer Trickfilm-Klassiker aus Ungarn von Marcell Jankovics

 

und hier einen Beitrag über den Film "Alois Nebel" – beeindruckender tschechischer Historien-Animationsfilm in Schwarzweiß von Tomáš Luňák + Jaroslav Rudiš

 

und hier einen Bericht über die Ausstellung "Ganz großer Trick!" – anschauliche Silhouetten-Trickfilmschau im Museum FilmBurg, Querfurt.

 

Außerdem verleiht eine altmodische Erzählstimme – in der deutschen Fassung gesprochen von Hanna Schygulla – der Parabel etwas Märchenhaftes; dadurch wird sie auch für ein jüngeres Publikum zugänglich. Wie auch durch die in naiver Manier gestalteten Bilder, die in eigenwilligem Gegensatz zu den oft schrecklichen Ereignissen stehen.

 

Inspiriert durch Odessa-Flucht 1905

 

Die Konturen der Figuren sind klar, ihre Gesichtszüge einfach, Primärfarben dominieren. Sobald die Bilder animiert werden, fließen sie oft ineinander. Die französische Künstlerin Florence Miailhe hat dafür eine spezielle Technik verwendet: Sie malt mit Ölfarben auf Glas. Dabei werden die Motive Einzelbild für Einzelbild auf mehreren Glasschichten direkt unter der Kamera ausgeführt. Dieses äußerst aufwendige Verfahren liefert einzigartige Ergebnisse, die sich wohltuend vom computergenerierten Einerlei kommerzieller Animationsfilme abheben.

 

Inspiriert wurde die Regisseurin von den Erlebnissen ihrer Urgroßeltern, die 1905 mit vielen Kindern vor antijüdischen Progromen aus Odessa flohen. Dass derzeit wieder Menschen aus der Schwarzmeerstadt fliehen müssen, erscheint wie eine grausame Wiederholung dieser Tragödie. Dieser Film macht sie auch für diejenigen nachvollziehbar, die in Sicherheit leben.