München

Gruppendynamik – Kollektive der Moderne

Stanisław Ignacy Witkiewicz: Two Heads, 1920, Muzeum Sztuki, Łódź. Fotoquelle: Städtische Galerie im Lenbachhaus, München
Gemeinsam sind wir avantgardistisch: Das Lenbachhaus führt vor, wie Künstlerkollektive auf allen Kontinenten im 20. Jahrhundert nach neuen Bild- und Formensprachen suchten. Als hervorragend dokumentierte Weltreise durch die Moderne – obwohl sie ihr selbstgestecktes Ziel verfehlt.

Mehr Understatement geht kaum. Das gesamte Info- und Werbematerial ist mit Handzeichnungen verziert, die wie Kinder-Gekritzel aussehen. Durchgängig verwendetes Orange gilt auch nicht gerade als Signalfarbe für bedeutsame Verlautbarungen. Und der Titel „Gruppendynamik: Kollektive der Moderne“ lässt eher an Soziologie oder Psychologie denken als an kunsthistorische Grundlagenforschung.

 

Info

 

Gruppendynamik –
Kollektive der Moderne

 

19.10.2021 - 12.06.2022

täglich außer montags 10 bis 18 Uhr,

donnerstags bis 20 Uhr

in der Städtischen Galerie im Lenbachhaus, Luisenstraße 33, München

 

Katalog 49 €

 

Weitere Informationen zur Ausstellung

 

Genau das leistet aber die Ausstellung im Lenbachhaus: in atemberaubender Fülle, die das Publikum hoffnungslos überfordern könnte, wäre sie nicht so glänzend organisiert. Daran hat ein achtköpfiges Kuratorenteam vier Jahre lang gearbeitet. Der Aufwand hat sich gelohnt: Die Schau eröffnet hierzulande praktisch unbekannte Kunst-Welten des 20. Jahrhunderts. Obwohl sie ihr selbstgestecktes Ziel verfehlt – das aber grandios.

 

15 Gruppen aus zehn Ländern

 

Parallel zur Ausstellung „Gruppendynamik – Der Blaue Reiter“ über die Hausheiligen der Städtischen Galerie, die noch bis März 2023 läuft, nimmt sich das Lenbachhaus in „Kollektive der Moderne“ die übrige Welt vor: Es stellt exemplarisch 15 Künstlergruppen vor, die sich zwischen 1910 und 1980 in zehn Ländern auf vier Kontinenten formierten.

Feature zur Ausstellung: "Gruppendynamik: Tradition & Moderne"; © Lenbachhaus


 

Auf eigenen Wegen in die Moderne

 

Wobei der Anspruch, universelle Merkmale von Künstlerkollektiven herauszufiltern, zwangsläufig scheitern muss. Oder eher: bei trivialen Kategorien landet wie „gemeinsames Arbeiten, Gespräche, Geselligkeit, Rivalität, Freundschaft, Offenheit, Inklusion, Abgrenzung, Ermüdung, Streit, Liebe, Polemik und Enthusiasmus“. Sie küssten und sie schlugen sich, wie in jeder Zweckgemeinschaft – was sonst?

 

Die fabelhafte Leistung dieser Ausstellung ist eine andere: Dutzende außereuropäischer Künstler vorzustellen, die weder in lokalen Traditionen verharrten noch die internationale Avantgarde imitierten, sondern eigene Wege in die Moderne beschritten. Und dies nicht als Einzelgänger wie Frida Kahlo, On Kawara oder El Anatsui, sondern als Gruppenmitglieder, die im gegenseitigen Austausch wie durch Kritik ihre Formensprachen entwickelten. Da werden Fragen und Debatten sichtbar, die jede eurozentrische Perspektive überschreiten.

 

Alles hängt mit allem zusammen

 

Wie sympathisch vermessen das Vorhaben der Schau ist, macht schon der zweite Raum deutlich. Im „Saal der Querverbindungen“ ziehen sich unzählige Linien über den Boden und die Wände, die mit programmatischen Texten gepflastert sind; mehr davon liegt in Vitrinen aus. Alles hängt eben mit allem zusammen. Wer all das durchlesen wollte, müsste den halben Tag lang verweilen – und die andere Hälfte im benachbarten „Leseraum“.

 

Anschaulicher wirkt die Gestaltung der übrigen Räume, die einzelnen Gruppen gewidmet sind. Die frühesten finden sich am Ende des Parcours: Im Japan der 1910/20er Jahre bildeten sich Künstlerkollektive durch rasche Zellteilung, warben einander Teilnehmer ab oder warfen sie wieder hinaus. Das Spektrum reicht von „Kohuten“ für traditionelle Nihonga-Malerei mit Mineralfarben bis zum radikalen „Mavo“. Die „Mavoisten“ experimentierten mit Collagen und Performances; sie zeigten ihre Werke auch in Cafés und sogar auf Parkbänken.

 

Keine Sklaven der Kunstgeschichte

 

Viele ihrer Akteure waren mit maßgeblichen Strömungen der westlichen Moderne vertraut, vom Postimpressionismus bis zu Futurismus und Dadaismus; dabei strotzten sie vor Sendungsbewusstsein. „Wir sind junge Männer, die mit reinem Gewissen und starker Überzeugung anführen, die in der ersten Reihe der Kunst mit freien und sicheren Schritten voranschreiten – mit Mut und Freude – wir sind keine Sklaven der Kunstgeschichte“, deklamierte Kambara Tai 1922 im Manifest der Gruppe „Aktion“. Der „Mavo“-Vordenker Murayama Tomoyoshi forderte einen „bewussten Konstruktivismus“.

 

Andernorts wirkte weniger die Auseinandersetzung mit dem Westen als vielmehr die mit regionalen Rivalen produktiv. Im Buenos Aires der 1910er Jahre hatten sich die „Artistas del Pueblo“ formiert; darunter Abraham Regino Vigo, Schöpfer eindrucksvoller Bühnenbilder fürs Theater. Analog zu Naturalismus und Proletkult in Europa sahen sie ihre Hauptaufgabe darin, die Arbeiterklasse im Kampf um ein besseres Leben zu unterstützen.

Feature zur Ausstellung: "Gruppendynamik: Gegensätze & Reibungen"; © Lenbachhaus


 

Neue Sprache für Lateinamerika

 

Ihnen trat in den 1920er Jahren die Gruppe „Martín Fierro“ um die gleichnamige Zeitschrift entgegen. Mit kosmopolitisch bildungsbürgerlichem Habitus – ihr später berühmtestes Mitglied war der Schriftsteller Jorge Luis Borges – bemühte sie sich um eine spezifisch argentinische Ausprägung der Moderne. Der surrealistische Maler und Mystiker Xul Solar erfand sogar eine neue Sprache, die alle Kolonialherren-Idiome in Lateinamerika ersetzen sollte; natürlich vergebens.

 

Ähnliche Absichten hegte die „Grupo dos Cinco“: Sie läutete 1922 mit einer „Semana de Arte Moderna“ in São Paulo das Zeitalter moderner Kunst in Brasilien ein. Alle fünf Mitglieder waren jedoch hellhäutige Oberschichts-Angehörige; bis auf den Autor Marío de Andrade, der ethnologische Studien betrieb, kannte keiner indigene und afrobrasilianische Kulturen. Dennoch wirkte das „Anthropophagische Manifest“ (1928) von Oswald de Andrade als Programmschrift des „Modernismo“ wegweisend; ebenso die flächig stilisierte Malerei von Tasila do Amaral.

 

Inspiration trotz offizieller Ignoranz

 

Inspirierende Konkurrenz durch wechselseitige Ignoranz prägte das Verhältnis zwischen der „Bombay Progressive Artists’ Group“ in Indien und des „Lahore Art Circles“ in Pakistan. Beide wurden bald nach der Teilung des Subkontinents 1947 gegründet und erlebten ihre Blütezeit in den 1950er Jahren. Angesichts der Feindschaft ihrer Staaten pflegten sie keinen offiziellen Austausch, obgleich manche Mitglieder privat befreundet waren. Und offenbar einander aus den Augenwinkeln beobachteten – ihre dunkel-tonigen, stark konturierten Bildsprachen sind verblüffend ähnlich. Das erinnert an die informellen deutsch-deutschen Kulturbeziehungen bis 1989.

 

Andere Kollektive wollten zum Aufbau ihrer jüngst unabhängig gewordenen Nationen beitragen. Die 1929 von Władysław Strzemiński gegründete Gruppe „a.r.“, zu der auch der in Deutschland bekannte Maler und Autor Stanisław Ignacy Witkiewicz (Witkacy) zählte, sammelte Werke von westlichen Avantgardisten als Kontrapunkt zum nationalkonservativen Kulturklima im Polen der Zwischenkriegszeit. Ihre Kollektion wurde zum Grundstock des Muzeum Sztuki (Kunstmuseum) in Łodź.

 

Eine-Nacht-Ausstellung mit Klopfzeichen

 

Die „Madrasat al-Khartoum“ im Sudan und die „Nsukka School“ in der gleichnamigen Stadt in Nigeria gingen aus führenden Kunsthochschulen ihrer Länder hervor. Beide wollten traditionelle Elemente fortentwickeln; im Sudan die arabische Kalligraphie, in Nigeria herkömmliche uli-Muster des Igbo-Volkes. Mit kühnen Ergebnissen: Arbeiten beider Schulen zeigen eine erstaunliche Bandbreite verschiedener Spielarten von Figuration und Abstraktion. Derweil schufen Vertreter der „Casablanca School“ eindrucksvolle Varianten konstruktiv-geometrischer Kunst, die sie ab 1969 im öffentlichen Raum von Marokko präsentierten.

 

Hintergrund

 

Lesen Sie hier eine Rezension der Ausstellung "Hello World – Revision einer Sammlung" – grandiose Universalkunst-Schau der Moderne mit Werken von Murayama Tomoyoshi im Hamburger Bahnhof, Berlin

 

und hier eine Besprechung der Ausstellung "A Tale of Two Worlds" – umfassende Vergleichs-Ausstellung von Nachkriegskunst aus Lateinamerika und Europa im Museum für Moderne Kunst, Frankfurt am Main

 

und hier eine Kritik der Ausstellung "museum global" mit "Mikrogeschichten einer ex-zentrischen Moderne" mit Werken von Tarsila do Amaral im K20, Kunstsammlung Nordrhein-Westfalen, Düsseldorf

 

und hier einen Artikel über die Ausstellung "Art et Liberté - Surrealismus in Ägypten (1938-1948)" – erste westliche Wanderschau zum Thema in den K20, Düsseldorf

 

und hier einen Beitrag über die Ausstellung "Postwar: Kunst zwischen Pazifik und Atlantik, 1945-1965"enzyklopädischer Nachkriegsmoderne-Überblick im Haus der Kunst, München

 

und hier einen Bericht über die Ausstellung "The Global Contemporary – Kunstwelten nach 1989" zur Globalisierung des Kunstmarkts im ZKM, Karlsruhe.

 

Dagegen wirken Motive und Machart von Bildern der „Wuming Huahui“ eher schlicht, fast rührend naiv. Die „Gruppe ohne Namen“ entstand unter befreundeten Amateur-Malern in Beijing Anfang der 1970er Jahre. Sie erlaubte ihnen die Beschäftigung mit moderner Kunst – in einem totalitären Staat, dessen Regime jedes individuelle Handeln misstrauisch beäugte. Da wurden sogar Mini-Ausstellungen im privaten Rahmen zum Wagnis: In der Silvesternacht 1974 wurden in einer Wohnung Bilder gezeigt; wer sie sehen wollte, musste das Klopfzeichen für die Eingangstür kennen.

 

Synthese bleibt aus oder regional beschränkt

 

Solche Geheimhaltungs-Strategien sind heute selbst in Diktaturen obsolet. Dagegen ist der Grundimpuls, der zur Formierung der meisten Künstlergruppen führte, aktueller denn je: Wie soll adäquate zeitgenössische Kunst aussehen? Die Mehrheit der Kollektive lehnte akademischen Realismus europäischer Prägung als Ausdruck von kulturellem Kolonialismus ab: Nichts eint Menschen mehr als ein gemeinsamer Feind. Doch ihre Gegenentwürfe fielen häufig widersprüchlich oder unsicher tastend aus.

 

Entweder war der Abstand zwischen lokalen Traditionen und europäischen Importen wie in Lateinamerika oder Japan so groß, dass eine Synthese ausblieb. Oder sie gelang, wie in Südasien und Afrika – blieb aber auf die jeweiligen Regionen beschränkt. Weil die Ignoranz der Kolonialzeit fortwirkte und der westlich geprägte Kunstbetrieb auf seine Akteure und Abnehmer fixiert blieb? Oder seine Nabelschau mangels Globalisierung und Digitalisierung unvermeidlich war?

 

24 Videoclips bei Youtube

 

Jedenfalls ist die Epoche kultureller Hegemonie des Westens vorbei und ästhetischer Unübersichtlichkeit gewichen. Erhellen soll sie das Programm „Museum Global“ der Kulturstiftung des Bundes: Von den vier geförderten Projekten bot neben „Kollektive der Moderne“ nur die Ausstellung „Hello World“ im Hamburger Bahnhof 2018 in Berlin eine derart breite Gesamtschau zu Stilrichtungen der Moderne auf allen Kontinenten.

 

Wobei das Lenbachhaus die Berliner Kollegen bei der Aufbereitung der nichtwestlichen Bilderflut übertrifft – etwa mit vier Video-Features zu Kernthemen von „Kollektive der Moderne“ plus 20 reich illustrierten Clips mit allen Vorträgen des vorbereitenden Symposiums 2020, alle jederzeit bei Youtube abrufbar. Mehr multimediale Informationsvermittlung geht kaum.