Berlin + Würzburg

Hannah Höch – Abermillionen Anschauungen

Hannah Höch: Kubus (oder: vom Menschen aus), 1926. Foto: Berlinische Galerie. © VG Bild-Kunst, Bonn 2022
Für Dada-Fotocollagen berühmt, ansonsten weniger bekannt: Das Riesenwerk von Hannah Höch mäandert zwischen vielen Stilen. Die Retrospektive im Bröhan- und Kulturspeicher-Museum bietet einen anschaulichen Querschnitt, garniert mit einem eigenwilligen Ausstellungskonzept.

„Abermillionen Anschauungen“ ist ein unschlagbar attraktiver Ausstellungstitel. Er leitet sich ab von einem Gedanken, den Hannah Höch (1889-1978) selbst formuliert hat: „… daß es außer deiner und meiner anschauung und meinung noch millionen und abermillionen berechtigter anderer anschauungen gibt. Am liebsten würde ich der welt heute demonstrieren, wie sie eine biene und morgen wie der mond sie sieht, und dann, wie viele andere geschöpfe sie sehen mögen.“

 

Info

 

Hannah Höch –
Abermillionen Anschauungen

 

16.02. - 15.05.2022

täglich außer montags

10 bis 18 Uhr

im Bröhan-Museum, Schlossstr. 1a, Berlin

 

Katalog 28 €

 

Weitere Informationen

 

11.06. - 04.09.2022

täglich außer montags 11 bis 18 Uhr,

dienstags ab 13 Uhr, donn. bis 19 Uhr

im Museum im Kulturspeicher, Oskar-Laredo-Platz 1, Würzburg

 

Weitere Informationen

 

Die Künstlerin als Demiurgin, die alle denkbaren Ansichten zur Erscheinung bringt – mehr geht nicht. Dieser Allzuständigkeits-Anspruch war typisch für die klassische Moderne; die Avantgardisten beanspruchten, das Weltverhältnis der Menschheit zu revolutionieren. Daran knüpft diese Ausstellung an: Sie will völlig neue Einblicke in das Werk von Höch bieten, die meist als Dada-Künstlerin wahrgenommen wird. Mit diesem ehrgeizigen Anspruch übernimmt sich die Schau allerdings ebenso wie die klassischen Avantgarden.

 

Überfälliger Gesamtüberblick

 

Dass Hannah Höch in ihrer Heimatstadt Berlin endlich wieder eine umfassende Retrospektive ausgerichtet wird, die anschließend nach Würzburg wandert, ist hoch verdient: Die letzte in der Berlinischen Galerie liegt 15 Jahre zurück. Und die letzte größere im Bundesgebiet, die 2016 in Mannheim und Mülheim an der Ruhr zu sehen war, behandelte vor allem ihr Werk nach 1945 – ein Gesamtüberblick wäre also überfällig.

Diaschau mit Werken von Hannah Höch © artpopulus


 

Undogmatischer Universal-Eklektizismus

 

Zudem ist Kuratorin Ellen Maurer Zilioli eine ausgewiesene Expertin: Sie hat 1989 das Berliner Symposium zu Höchs 100. Geburtstag mitorganisiert und zwei Jahre später über ihr malerisches Werk promoviert. Der Titel ihrer Doktorarbeit „Jenseits fester Grenzen“ deutet aber auch ein spezielles Verständnis der Künstlerin an. Naturgemäß will die Kuratorin es in dieser Ausstellung darlegen – das ist nicht unproblematisch.

 

Sie nimmt Höchs multiperspektivisches Selbstverständnis zum Nennwert: Diese habe von der Lebensphilosophie und Phantastik um 1900 bis zur Naturwissenschaft des Atomzeitalters alle möglichen geistigen Strömungen rezipiert. Und dann in ihre Bilder von kunstgewerblichen Anfängen über Dada, Expressionismus, Futurismus, De Stijl und Surrealismus bis zu Informel und Pop Art sämtliche Formensprachen ihrer Epoche einfließen lassen: ein Universal-Eklektizismus abseits aller Dogmen.

 

Im Wörtersee Grenzen ziehen

 

Das klingt im Begleitheft etwa so: „Landschaft, Vegetation, kosmische Dimensionen suggerieren in komprimierter Fassung Phänomene, Emotionen, Prozesse, kurz Aspekte, die im Großen und Ganzen die Konditionalisierung und das Verhältnis von Mensch und Welt, von Sein und Universum signalisieren.“ Alles klar? Wohl kaum: Wenn alles mit allem zusammenhängt, ist nichts mehr erkennbar. Kunstgeschichte darf Begriffe nicht verflüssigen, bis alles verschwimmt, sondern muss plausible Kategorien definieren, also Grenzen durch den Wörtersee ziehen: damit die Dinge verständlich werden.

 

Was auch diese Schau trotz gegenteiliger Bekundungen tut: Sie gliedert die rund 120 Exponate nicht chronologisch, sondern thematisch in sieben Blöcke. Manche leuchten sofort ein, etwa die zu Abstraktion und Ornament, über Grotesken oder Höchs Kosmos-Begeisterung. Andere wirken nebulös wie „Raumkonzepte“, „Die Seherin“ oder „Dynamische Strukturen“ – letztere gibt es doppelt. In allen Abteilungen treffen Klein- auf Großformate und frühe auf späte Arbeiten; auch das überzeugt mal mehr, mal weniger.

 

Wegweisende Wimmelbilder fehlen

 

Indes werden manche Konstanten deutlich. Höch hatte ab 1912 an Kunstgewerbeschulen studiert und bis 1926 den Ullstein-Verlag mit Handarbeits-Entwürfen beliefert. Ihr Faible für dekorative Muster und Ornamente durchzieht ihr gesamtes Werk: Auf vielen Bildern werden zentrale Motive von Linien, Wellen oder Schraffuren umgarnt oder geradezu eingesponnen.

 

Epochal wurde ihre Erfindung der Fotocollage 1918; sie entwickelte daraus eine Kunstform sui generis. Repro-Schnipsel kombinierte sie virtuos zu waghalsigen Darstellungen, auf denen herkömmliche Größenverhältnisse, Perspektive und Bildlogik ausgehebelt waren. Diese fantastisch vieldeutigen Schöpfungen sind untrennbar mit ihrem Namen verknüpft; leider zeigt die Schau vorwiegend kleine Exemplare. Wegweisende Wimmelbilder wie „Schnitt mit dem Küchenmesser Dada durch die letzte Weimarer Bierbauchkulturepoche Deutschlands“ von 1919 fehlen.

 

Quietschbunte Niedlichkeits-Ästhetik

 

Hintergrund

 

Lesen Sie hier eine Rezension der Ausstellung  "Hannah Höch: Revolutionärin der Kunst" über das Werk der Dadaistin nach 1945 in Mannheim + Mülheim a.d. Ruhr

 

und hier eine Besprechung der Ausstellung "Dada Afrika - Dialog mit dem Fremden" mit Werken von Hannah Höch in der Berlinischen Galerie, Berlin

 

und hier ein Beitrag über die Ausstellung “Traumanatomie” über die Dada-Pioniere Hugo Ball + Hans Arp im Arp Museum, Remagen.

 

Dagegen sind einige ihrer bekanntesten Gemälde zu sehen, etwa „Die Mücke ist tot“ (1922) oder die „Symbolistische Landschaft“ von 1930. Dabei wird anschaulich, wie oft die Künstlerin Sockel verwendete, um Elemente voneinander zu isolieren: Jedes steht für sich allein in der Bildwelt. Ähnlich häufig konfrontierte sie organisch Wucherndes mit kantigen Geometrie-Formen, wie 1926 in „Kubus (oder: vom Menschen aus)“.

 

Während solche Bilder bei aller stilistischen Vielfalt unverkennbar Höchs Handschrift tragen, gilt das für ihre abstrakten Arbeiten weniger. Ob aus den 1920er oder 1950er Jahren: Meist sind sie an geläufige Bildformeln der Zeit angelehnt. Und ihre manchmal nur briefmarkengroßen Grotesken in quietschbunten Farben erinnern mit ihrer Niedlichkeits-Ästhetik an Cartoon- oder Comic-Fingerübungen.

 

Macht nichts: Diese Ausstellung bietet zwar nicht Abermillionen, doch einige eigenwillige Perspektiven auf Höchs schillerndes Gesamtwerk. Wer es in seiner ganzen Breite und Fülle kennenlernen will, ist mit den Katalogen der Retrospektiven 2007 und 2016 besser bedient.