„Derjenige kommt am weitesten, der nicht weiß, wohin er geht“, soll der englische Lordprotektor Oliver Cromwell gesagt haben. „Mein Projekt ist, keine Projekte zu machen“, hieß der Beitrag des erst 24-jährigen Jean-Frédéric Schnyder zur Ausstellung „Pläne und Projekte als Kunst“ 1969 in der Kunsthalle Bern. Damit ist er weit gekommen.
Info
Jean-Frédéric Schnyder
04.02. - 29.05.2022
täglich außer montags
10 bis 17 Uhr, dienstags bis 21 Uhr
im Kunstmuseum Bern, Hodlerstrasse 12
25.02. - 15.05.2022
täglich außer montags
11 bis 18 Uhr,
am Wochenende ab 10 Uhr
in der Kunsthalle Bern, Helvetiaplatz 1
Katalog 30 CHF
Zwei Mal documenta, vier Mal Biennale
Gleichfalls für Szeemann: Nach der umstrittenen Schau kündigte Szeemann zwar seinen Kunsthallen-Job, doch wurde er kurz darauf zum Leiter der documenta 5 in Kassel 1972 berufen. An ihr nahm auch Schnyder teil, ebenso – stets gefördert von Szeemann – an der documenta 7 sowie zwei Biennalen in Venedig und in Paris. Doch eine Weltkarriere wurde daraus nicht.
Feature zur Ausstellung im Kunstmuseum. © Vernissage TV
Anekdoten statt Interpretation
Nun besinnt sich die Kunsthalle Bern auf ihre frühe Verbindung zu Schnyder und richtet ihm eine umfangreiche Retrospektive aus; weitere Werke sind im Kunstmuseum Bern zu sehen. Dass ihm große Erfolge versagt blieben, dürfte auch an seiner Zurückhaltung liegen. Schnyder ist kein Mann vieler Worte. Mit seiner unprätentiösen, bodenständigen Art entzieht er sich jeder intellektuellen Diskussion über die Bedeutung seiner Kunst. Anstelle von Interpretationshilfen liefert er höchstens Anekdoten über die Entstehung der Arbeiten.
Das lässt den Betrachter oft rätseln: Kommentiert das überlebensgroße Skelett aus Korkzapfen mit Kapitänsmütze („Der Kapitän“, 1973) im Kunstmuseum die Vergänglichkeit des Daseins und Eitelkeit der Menschen? Oder kritisieren Abbildungen von Gebrauchsgegenständen wie Markenunterhosen („Jockey“, 1984), Einkaufstüten („Sack“, 2020) oder Pralinenschachteln („Eichenberger“, 2021) die Konsumgesellschaft?
Schweizer Ironie + Persiflage
Manche Bilder wie die Serie „How to Paint“ (1973) wirken tatsächlich wie Fingerübungen nach dem Muster von Malen-nach-Zahlen-Lehrgängen. Andere Motive, etwa großformatige Gemälde seines Hundes „Dritchi I – VIII“ (1985) am Strand, im Kino oder Malerkittel, schrammen haarscharf an bonbonbunt infantilem Kitsch vorbei.
Offensichtlich lässt Schnyder ein gerüttelt Maß an Ironie und Persiflage in seine Werke einfließen. Damit ist er in bester helvetischer Gesellschaft; man denke an den schweizerischen Maschinen-Dadaisten Jean Tinguely, den Aktions- und Objektkünstler Dieter Roth oder die hintersinnigen Werke des Duos Peter Fischli/ David Weiss.
Visueller Witz eines Workaholics
Das Kunstmuseum wählte die Arbeiten aus, der Künstler übernahm die Hängung. Entstanden ist eine Art Potpourri, das eindrücklich Schnyders enorme inhaltliche und motivische Bandbreite und gleichzeitig seinen radikalen Stil-Eklektizismus vor Augen führt. Wenn diese Werke aus fünf Jahrzehnten etwas gemeinsam haben, dann einen visuellen Witz, den Schnyder aus dem scheinbar Normalen und Banalen herauskitzelt. In gängige Schubladen lässt er sich jedenfalls nicht einordnen.
Der ständige Wechsel der Bildsprache je nach Gegenstand lässt sich aber auch als Obsession deuten, sich beschäftigt zu halten. Seine Arbeitswut verleugnet Schnyder nicht. Für den Workaholic kann alles zum Ausgangsmaterial für gewagte Konstruktionen werden; er verschwendet nichts. Seine Freude am unentwegten Schaffen zeigt sich im Kunstmuseum an kleinen, bemalten Zinnfiguren (1974/9) oder einem „Empire State Building“ (1971) aus Legosteinen und Kaugummi.
Kunst, Kuriosum + Bastelei
Auch etwas Verspieltes lässt sich in diesen Arbeiten erkennen, als nehme der Künstler mit gleichsam kindlicher Neugier alles, was ihn umgibt, offen und vorurteilslos auf. Alltägliches weckt sein Interesse ohne Hierarchisierung: Alles ist ihm gleich gültig und wichtig, unterliegt keiner Wertung. Das fasziniert und irritiert zugleich. Man fragt sich zwangsläufig: Was in Schnyders Produktion ist als Kunst ernst zu nehmen – und was wirkt eher als Kuriosum, vielleicht gar als Bastelei?
Die Präsentation der Kunsthalle macht überdies den seriellen Charakter von Schnyders Werk anschaulich. Etwa bei „das Eine“ (2014/20), einer Sammlung von 107 Holzplatten im A4-Format, die mit Schnitzabfällen beklebt sind; sie nehmen eine ganze Wand ein. Als Gegenstück findet sich im nächsten Saal „das Andere“ (2014/21): Auf einem niedrigen Podest liegen mehr als 9000 kleine geschnitzte Holzkreuze nebeneinander. In Dicke und Größe variierend, werfen sie unterschiedliche Schatten, die sich an verschiedenen Stellen verdichten. Das ähnelt der Ästhetik einer Relief-Weltkarte mit markanten Land- und Wasserflächen. Oder soll es einen riesigen Friedhof darstellen?
Berner Veduten + Bahnhofs-Wartesäle
Hintergrund
Lesen Sie hier eine Rezension der Ausstellung "Ferdinand Hodler - Maler der frühen Moderne" – eindrucksvoll inszenierte Werkschau des Schweizer Nationalkünstlers in der Bundeskunsthalle, Bonn
und hier eine Besprechung der Ausstellung "Via Lewandowsky – Hokuspokus" – Retrospektive des humorvollen Konzept-Künstlers im Museum der bildenden Künste, Leipzig
und hier einen Bericht über die Doku "Jean Tinguely" – informatives Film-Porträt des Schweizer Dada-Maschinenkünstlers von Thomas Thümena.
und hier einen Beitrag über die Ausstellung "Private Wurm" – Skulpturen und Installationen des österreichischen Kunst-Satirikers Erwin Wurm im Essl Museum, Klosterneuburg bei Wien.
Auch in seiner Malerei verfolgt Schnyder das Prinzip des Seriellen. Dabei widmete er sich vor allem markant schweizerischen Motiven: 1982 schuf er 126 „Berner Veduten“ (1982) mit unscheinbaren Motiven wie Hausfassaden, Einkaufszentren oder Straßenunterführungen. In der Reihe „Wartsaal“ malte er ab 1988 Warteräume in Schweizer Bahnhöfen; fünf Jahre später eine Serie von Autobahnbildern. Leider fehlen solche markanten Werkgruppen in beiden Ausstellungen.
Pro Alltägliches, contra Pathos
Doch Schnyder ist mehr als ein fleißiger Chronist der heimischen Kulturlandschaft; das zeigt diese doppelte Werkschau in überbordender Fülle. Da findet sich neben qualitativ Herausragendem auch weniger Überzeugendes. Allen Arbeiten gemeinsam ist aber ihre Vorliebe für Gewöhnliches und Abwesenheit von jedwedem Pathos. Im heutigen Kunstbetrieb, in dem bedeutungshuberndes Klappern zum volltönenden Handwerk gehört, ist ein derart bescheidenes Auftreten sehr sympathisch.