Mahamat-Saleh Haroun

Lingui

Amina (Achouackh Abakar Souleymane) will sich prostituieren, um ihrer Tochter eine Abtreibung zu finanzieren. Foto: © Mathieu Giombini. Fotoquelle: © déjà-vu film UG
(Kinostart: 14.4.) Selbst ist die Frau: Eine Mutter im Tschad ermöglicht ihrer Tochter eine illegale Abtreibung, um deren Zukunft zu retten. Regisseur Mahamat-Saleh Haroun schildert weibliche Selbstermächtigung ohne Pathos in ruhigen Einstellungen mit exquisiten Bildern.

In der französischen Originalversion heißt dieser Film „Lingui, les liens sacrés“. Dem deutschen Verleih war der Untertitel „Heilige Bande“ wohl zu irreführend. Zurecht: Er suggeriert Pathos und die Bindung an religiöse Vorschriften. Beides ist dem Film fremd; das Korsett starrer Regeln der islamischen Autoritäten wird sogar explizit kritisiert. „Lingui“ meint vielmehr die traditionelle Verpflichtung zu zwischenmenschlicher Solidarität.

 

Info

 

Lingui

 

Regie: Mahamat-Saleh Haroun,

87 Min., Frankreich/ Deutschland/ Belgien 2021;

mit: Achouackh Abakar Souleymane, Rihane Khalil Alio, Youssouf Djaoro

 

Weitere Informationen zum Film

 

Wie es aussieht, wenn sie fehlt, wird bereits in der ersten Einstellung gezeigt. Mühsam zerschneidet Amina (Achouackh Abakar Souleymane) per Hand alte Autoreifen, um Drähte herauszukratzen. Daraus flicht sie kegelförmige Feuerroste, die sie als fliegende Händlerin für umgerechnet zwei bis fünf Euro verkauft. Amina ist alleinstehende Mutter; sie wurde von ihrer Familie verstoßen, als sie unverheiratet ein Kind bekam.

 

Gegen Moschee + Justiz

 

Nun droht ihrer Tochter Maria (Rihane Khalil Alio) ein ähnliches Schicksal: Die 15-Jährige ist schwanger und wird deshalb der Schule verwiesen. Sie will aber nicht wie ihre Mutter enden, sondern den Fötus abtreiben. Was im Tschad sowohl geistliche als auch weltliche Gesetze verbieten; anfangs ist die gläubige Amina von Marias Plan schockiert, zumal ihr der Imam im Nacken sitzt. Doch bald hat sie ein Einsehen und will die Zukunft ihrer Tochter retten.

Offizieller Filmtrailer


 

Engelmacherin simuliert Beschneidung

 

Viel Geld macht vieles möglich: Derselbe Arzt, der vor Haftstrafe und Berufsverbot warnt, bietet im nächsten Atemzug einen diskreten Eingriff in einer Privatklinik für rund 1500 Euro an. Diese Summe aufzubringen, ist für beide unmöglich. Eine alte Engelmacherin, die auch die Simulation von Beschneidungen bei Mädchen anbietet, erscheint eigentlich zu dubios, um sich ihr anzuvertrauen.

 

Da taucht Aminas lang vermisste Schwester Fanta auf und beklagt, ihr Mann verlange die Beschneidung der gemeinsamen Tochter, was sie ablehne. Ein Fall für „Lingui“: Amina sorgt dafür, dass die Engelmacherin ihre Künste bei Fantas Tochter anwendet. Fanta gibt ihren Goldschmuck der Schwester, um die Abtreibung zu bezahlen. Sie hat schwer wiegende Folgen, denn Maria enthüllt endlich den Namen des Kindsvaters.

 

Gassengewirr in Cinemascope-Qualität

 

Der tschadische Regisseur Mahamat-Saleh Haroun personifiziert quasi das Autorenkino des Sahel-Staats – zumindest, was es bis auf westliche Leinwände schafft. 2017/8 war er auch Kulturminister. International bekannt wurde Haroun 2006 mit dem beklemmenden Blutrachedrama „Daratt – Zeit der Entscheidung“, vier Jahre später gefolgt vom ähnlich intensiven „Ein Mann, der schreit“ über einen Vater, der für seinen Job seinen Sohn opfert. Dagegen geriet 2013 „Grigris Glück“ über ein in Benzinschmuggel verstricktes Liebespaar, quasi die Afro-Version von „Bonnie and Clyde“ (1967), zu gefällig versöhnlich.

 

Hintergrund

 

Lesen Sie hier eine Rezension des Films "Das Ereignis" - kühl drastisches Abtreibungsdrama in Frankreich 1963 von Audrey Diwan

 

und hier eine Besprechung des Films "24 Wochen" - sachliches Spätabtreibungs-Drama von Anne Zohra Berrached

 

und hier ein Beitrag über den Film "Das Mädchen Hirut - Difret" - grandioses Drama über Vergewaltigung und Zwangsheirat aus Äthiopien von Zeresenay Berhane Mehari.

 

„Lingui“ weist wieder Harouns Stärken auf. Die stringent konstruierte Handlung wird in ruhigen Einstellungen mit etlichen Ellipsen erzählt – weil sich das Nicht-Gezeigte oder -Gesagte für das heimische Publikum von selbst versteht. Dennoch können auch Nichtafrikaner dem Geschehen problemlos folgen. Diesmal beeindruckt zudem die exquisite Bildgestaltung: Brillant beleuchtete Szenen mit geringer Tiefenschärfe verleihen selbst dem Gassengewirr mit Lehmbauten in der Hauptstadt N’Djamena fast Cinemascope-Qualitäten.

 

Schicksalsschläge ohne Sozialversicherung

 

Zudem sind erstmals in einem Film von Haroun die Hauptfiguren Frauen. Ihre Selbstbefreiung aus Zwängen und Unterdrückung mag auf westliche Betrachter etwas reibungslos und didaktisch wirken. Und manche Episode brüsk eingestreut: wenn unversehens Amina ihren betagten Nachbarn (Youssouf Djaoro) verführen will, um rasch an Geld zu kommen, oder ausgerechnet in der Nacht vor Marias Abtreibungs-Termin die Privatklinik durch eine Polizei-Razzia geschlossen wird.

 

Doch in patriarchalischen Clan-Gesellschaften sind solche Koinzidenzen auf engstem Raum nicht ungewöhnlich: Schimpf und Schande, aber auch Mitgefühl und großzügige Hilfe liegen eng beieinander. Vor allem vermittelt der Film aber einen sehr authentischen Eindruck vom Lebensgefühl vieler Afrikaner: Ihr Dasein ist ein langer, monoton dahinströmender Fluss, in den plötzlich Schicksalsschläge einbrechen, mit deren Folgen die Betroffenen für den Rest ihrer Tage irgendwie zurechtkommen müssen. Ohne Sparkonto oder Sozialversicherung.