Berlin

Beirut and the Golden Sixties: A Manifesto of Fragility

Aref El Rayess: Untitled, 1977–78, Öl auf Leinwand, 80 x 110 cm. © Aref El Rayess Foundation, Aley, Mount Lebanon, Courtesy: Saradar Collection
Die lange Levante-Party der 1960er Jahre: Damals war Beirut Banktresor und Amüsiermeile der arabischen Welt. Und ihr Kulturzentrum – Kunst, die dort entstand, beeindruckt durch Virtuosität und Sinnlichkeit. Das führt ein faszinierender Epochen-Rückblick im Gropius Bau mit origineller Inszenierung vor.

Libanons Hauptstadt steht heute für Krieg, Krisen und scheinbar unaufhaltsamen Niedergang. Das war früher anders: In den 1960er Jahren bis zum Ausbruch des Bürgerkriegs 1975 hatte Beirut geradezu magnetische Anziehungskraft. Wohlhabend und florierend, liberal und tolerant, multikulturell und kosmopolitisch bot die Stadt mehr Freiräume als jeder andere Ort in der arabischen Welt. An diese Goldene Ära erinnert die Ausstellung im Gropius-Bau – mit rund 220 Arbeiten von 35 Künstlern so glänzend und vielgestaltig wie die betrachtete Epoche.

 

Info

 

Beirut and the Golden Sixties:
A Manifesto of Fragility

 

25.03.2022 - 12.06.2022

täglich außer dienstags 10 bis 19 Uhr,

donnerstags bis 21 Uhr

im Gropius-Bau, Niederkirchnerstraße 7, Berlin

 

Weitere Informationen zur Ausstellung

 

Beirut verdankte seinen Aufstieg dem schnöden Mammon: 1956 führte der Libanon ein strenges Bankgeheimnis ein. Im Nu galt das Land als sicherer Hafen für die Vermögen reicher Araber, die vor Putschen und Revolten aus den krisengeschüttelten Nachbarstaaten flohen. Rasch wurde die Wendung „Schweiz des Orients“ geprägt und seine Hauptstadt „Paris des Nahen Ostens“ genannt. Ein Paris in der Schweiz am Mittelmeer – was will man mehr?

 

US-Truppen in Libanonkrise 1958

 

Zwei Jahre später wurde die ökonomische Sonderstellung politisch abgesichert: Im Juni 1958 landeten US-Truppen im Hafen von Beirut, um ihn und den Flughafen zu kontrollieren. Sie sollten die prowestliche Regierung von Präsident Camille Chamoun stützen, dessen Anhänger sich Kämpfe mit arabischen Nationalisten lieferten. Doch er wurde als Staatschef von Fuad Schihab abgelöst, der die US-Army zum Rückzug zwang und umfassende soziale Reformen einleitete. Mit Erfolg: Die Party konnte beginnen.

Impressionen der Ausstellung


 

Badenixen + Armenquartiere

 

Dazu lädt der Auftakt ein: In schwarzweißen Wochenschau-Berichten tanzen und feiern kostümierte Beiruter ausgelassen. Auf Fototapeten ist fröhliches Strandleben zu sehen; eine Farbaufnahme von Anfang der 1970er Jahre zeigt sogar eine barbusige Badenixe. Mit solchen Motiven auf überlebensgroßen Stellwänden schaffen die Kuratoren Sam Bardaouil und Till Fellrath geschickt für die fünf Abteilungen der Schau eine jeweils passende Atmosphäre. Wer will, mag das immersiv nennen.

 

Die Begleitumstände des Booms finden sich auf kleinen Ölgemälde in naiver Manier: Darauf hat der Autodidakt Khalil Zgaib die US-Besetzung des Hafens und Straßenschlachten in der Innenstadt festgehalten. Zwischen Zeugnissen der prosperierenden Metropole sind Darstellungen ihrer Schattenseiten eingestreut; so malte etwa Paul Guiragossian ärmliche Behausungen von armenischen Überlebenden des Genozids von 1915, die seither ihr Dasein in Flüchtlingslagern fristeten.

 

Vernissagen-Publikum mit Weingläsern

 

Die kreative Blüte in Beirut wurde von der meist christlichen Oberschicht getragen; andere Volksgruppen waren kaum beteiligt. Ihr elitärer Charakter sorgte für weltläufiges Flair: Die meisten Künstler hatten im Ausland studiert. Viele lebten auch zeitweise dort, häufig in der früheren Kolonialmacht Frankreich. Virtuos handhabten sie alle Stile und Formensprachen, die in der Nachkriegsmoderne en vogue waren. Plakate und Kataloge ihrer Ausstellungen, die viele Vitrinen füllen, hätten auch in Paris oder New York erscheinen können.

 

Die Galerieszene war dicht bestückt und ausdifferenziert: Im „Sursock Museum“ einer Aristokraten-Villa wurde alljährlich ein „Herbstsalon“ veranstaltet. Das „Centre d’Art“ zeigte vorzugsweise Surrealisten, der Kunstraum „Dar el Fan“ konzentrierte sich auf politisch engagierte Positionen. Filmaufnahmen zeigen distinguiertes Vernissagen-Publikum in Abendgarderobe, das Wein trinkend an Exponaten vorbeischlendert. Wäre nicht arabische Schrift eingeblendet, würde man kaum vermuten, dass diese Szenen in der Levante gedreht wurden.

 

Bilder der sexuellen Revolution

 

Nicht nur Präsentation und Vermarktung dieser Kunst wirken international, sondern auch ihre Inhalte. Die sexuelle Revolution brachte genauso fantasievoll freizügige Bilderfindungen hervor wie im transatlantischen Westen. Huguette Caland, geborene El-Khoury und Tochter des ersten libanesischen Präsidenten, malte ab 1970 organisch geschwungene Flächen in Pastelltönen, die sie sparsam mit Augen und Mündern akzentuierte: als Panoramen verschlungener Körperteile.

 

Juliana Seraphim zeichnete filigrane kolorierte Collagen, so surrealistisch wie explizit. Georges Doche aquarellierte fantastische Landschaften voller polymorph-perverser Pflanzen. Cici Sursock fragmentierte und rekombinierte Torsi; Dorothy Salhab Kazemi modellierte Keramik-Objekte mit lasziven Oberflächen. Auffallend ist: Die meisten Arbeiten in dieser sinnlichen Sektion wurden von Frauen geschaffen.

 

Tapisserien, Op-Art + Videokunst

 

Auch etliche andere Strömungen und Themen der Epoche griffen libanesische Künstler auf; nicht plagiierend, sondern mit souverän eigenständigen Beiträgen. Staunend steht man vor der enormen Vielfalt von Ansätzen und Techniken, die jede aktuelle Biennale bereichern würde. Kalligraphie und Miniaturmalereien entstanden in Beirut ebenso wie leuchtend Abstraktes auf Riesenleinwänden, Op-Art oder kinetische Kunst – selbst erste Versuche mit Videokunst.

 

Die Bildhauer-Brüder Michel, Alfred und Joseph Babous schufen semiabstrakte Plastiken aus erlesenen Materialien, die heute einen ganzen Skulpturenpark im Nordlibanon füllen. Gleichfalls zwischen Figuration und Abstraktion changieren die Tapisserien von Simone Baltaxé Martayan: Sie modernisierte das antiquiert erscheinende Medium Wandteppich mit kühnen, farbenfrohen Kompositionen.

 

Stickerei vor MG-Machos

 

Hintergrund

 

Lesen Sie hier eine Rezension der Ausstellung "Gruppendynamik – Kollektive der Moderne" mit nichteuropäischer Kunst aus vier Kontinenten im Lenbachhaus, München

 

und hier eine Besprechung der Ausstellung "Fahrelnissa Zeid: Pionierin der Moderne" – große Retrospektive der türkisch-irakisch-jordanischen Künstlerin in der Deutsche Bank KunstHalle, Berlin

 

und hier einen Beitrag über die Ausstellung "Art et Liberté - Surrealismus in Ägypten (1938-1948)" – erste Überblicksschau zum Thema, kuratiert von Sam Bardaouil + Till Fellrath, in den K20, Düsseldorf

 

und hier ein Bericht über die Ausstellung "Common Grounds" – facettenreiche Gruppenschau mit zwölf zeitgenössischen Künstlern aus der islamischen Welt in der Villa Stuck, München

 

und hier eine Kritik des Films "Art War" – fulminante Doku über politische Street Art in Kairo als Teil der Arabellion von Marco Wilms.

 

Noch ausgefallener ist die Technik, die Nicolas Moufarrege 1975 für „The Blood of the Phoenix“ verwendete: Mit Fäden und Farbpigmenten fertigte er eine surreale Stickerei an, auf der Augen in Wolkenschwaden und Blutlachen zwischen Stümpfen antiker Säulen wabern. Aus traurigem Anlass: Der Bürgerkrieg hatte begonnen – eine Zeder, Nationalsymbol des Libanons, schwebt zerfetzt in der Ecke.

 

Montiert ist das Bild auf eine Stellwand, auf der Kämpfer einer Miliz als Maschinengewehr-Machos posieren. Indem die Kuratoren derart Kunstwerke mit Foto-Reproduktionen kombinieren, machen sie anschaulich, wie stark die Kunstszene auf die politischen Erschütterungen der 1970er Jahre reagierte. So wird der letzte Saal zum Kabinett des Schreckens: Aref El Rayess zeichnete umfangreiche Grafik-Serien, in denen er das Grauen des Kriegsgeschehens als heillosen Kampf von Menschen mit Maschinen festhielt.

 

Verlorenes Lebensgefühl

 

Zwar endete der Krieg 1990, doch von seinen Folgen hat sich der Libanon nie erholt. Seither jagt eine Katastrophe die nächste. Die jüngste war die Ammoniumnitrat-Explosion am 4. August 2020, die Beiruts Hafen zerstörte und mehr als 8000 Gebäude beschädigte. Daran erinnert im Epilog eine Installation von Joana Hadjithomas und Khalil Joreige: Neun Monitore zeigen Überwachungskamera-Aufnahmen von der Druckwelle der Detonation.

 

Der Schutt mag eines Tages beseitigt, die Bauten repariert und der Hafen wieder aufgebaut sein. Nicht wiederherstellen lässt sich das Lebensgefühl der Goldenen Zeiten von Beirut. Weniger, weil die Protagonisten von damals längst ausgewandert oder verstorben sind. Vielmehr wegen des Paradigmenwechsels in der Weltkultur: Die kulturelle Hegemonie des Westens ist geschwunden, übrig bleibt Konsumismus – der benötigt Kunst allenfalls als Design und Dekor.