Tilda Swinton

Memoria

Jessica Holland (Tilda Swinton) und Hernán Bedoya (Juan Pablo Urrego) im Tonstudio. Foto: Sandro Kopp; © Kick the Machine Films u.a., 2021
(Kinostart: 5.5.) Ein Knall im Kopf, den kein anderer hört: Tilda Swinton sucht in Kolumbien nach Ursachen für ihre akustischen Halluzinationen. Daraus webt der thailändische Regisseur Apichatpong Weerasethakul eine fein gesponnene, vieldeutig schillernde Fabel über Geschichte und Erinnerung.

Es beginnt mit einem Knall: In den frühen Morgenstunden wird die in Kolumbien lebende Jessica (Tilda Swinton) von einem eigentümlichen Geräusch aus dem Schlaf geschreckt. Es klingt wie eine Explosion, aber auf merkwürdige Weise gefiltert; ein Auslöser ist nicht zu ermitteln.

 

Info

 

Memoria

 

Regie: Apichatpong Weerasethakul,

136 Min., Kolumbien/ Thailand/ Deutschland 2021;

mit: Tilda Swinton, Elkin Díaz, Juan Pablo Urrego

 

Weitere Informationen zum Film

 

Als Jessica kurz darauf ihre kranke Schwester in der Hauptstadt Bogotá besucht, hört sie das Geräusch erneut. Sie muss feststellen, dass sie als einzige den seltsamen Wumms wahrnimmt. Auf der Suche nach dem Ursprung dieses Phänomens wendet sie sich an den Toningenieur und Klang-Designer Hernán Bedoya (Juan Pablo Urrego). Gemeinsam rekonstruieren sie im Tonstudio den eigentümlichen Klang, den Hernán anschließend für Tracks mit elektronischer Musik verwendet.

 

Verschwundener Toningenieur

 

Doch dadurch wird das Rätsel noch verzwickter: Als Jessica später Hernán noch einmal aufsuchen will, kann sich niemand im Tonstudio an ihn erinnern – ein Kollege dieses Namens arbeite hier nicht, heißt es. Jessica scheint sich immer weiter aus der Realität ihrer Mitmenschen zu entfernen.

Offizieller Filmtrailer


 

Das Gedächtnis von Steinen anzapfen

 

Ihre Suche führt sie heraus aus ihrem städtischen, von Wissenschaft und Technologie beherrschten Umfeld zu einer archäologischen Ausgrabungsstätte in der Provinz: Beim Bau eines Tunnels wurden 6000 Jahre alte Skelette entdeckt. In einem Dorf in der Nähe begegnet Jessica einem älteren Einsiedler (Elkin Díaz), der Fische entschuppt und sich ebenfalls Hernán Bedoya nennt.

 

Er erzählt ihr, dass er sich nicht nur an buchstäblich alles erinnere, was er jemals erlebt habe. Er könne selbst das Gedächtnis von Steinen anzapfen und ihre Geschichte aus ihnen herauslesen, sagt er. Mit dieser Begegnung endet Jessicas Suche – auch das Rätsel des unheimlichen Knalls wird gelüftet.

 

Realitätsebenen durchdringen einander

 

Dabei geht es nicht einfach nur um die medizinische Diagnose „Exploding Head Syndrome“: Die Betroffenen erleben im Halbschlaf oder beim Aufwachen akustische Halluzinationen. Auch Regisseur Apichatpong Weerasethakul litt zeitweise daran, doch verwandelt er das Phänomen in seine eigene, poetische Version. Sie wirft etliche Fragen auf, die noch lange nach dem Ende des Films nachhallen. Voraussetzung dafür ist, sich ihm anzuvertrauen, seine scheinbaren Längen auszuhalten und die eigentümliche Stimmung zu erfahren, wenn mehrere Realitätsebenen einander subtil durchdringen.

 

Der Begriff „magischer Realismus“ wird gern herbeizitiert, wenn in der südamerikanischen Literatur nicht alles mit rechten Dingen zugeht, also die erzählte Wirklichkeit nahtlos in Träume und Halluzinationen übergeht. Geprägt wurde diese Stilbezeichnung in Abgrenzung zum europäischen Surrealismus; als ihr berühmtester Vertreter gilt der Kolumbianer Gabriel García Márquez (1927-2014).

 

Persönlicher magischer Realismus

 

Da dieser Film in Kolumbien spielt, liegt es nahe, ihn dieser Traditionslinie zuzuordnen. Allerdings kommt Regisseur Apichatpong Weerasethakul aus Thailand; dort entstanden auch die Filme „Tropical Malady“ (2004) und „Uncle Boonmee erinnert sich an seine früheren Leben“ (2010), mit denen er bekannt wurde. Regelmäßig verlassen seine Arbeiten den Boden der Realität mittels Filmbildern, die teils banal erscheinen, im nächsten Moment aber transzendent wie Meisterwerke der Malerei wirken können.

 

Hintergrund

 

Lesen Sie hier eine Rezension des Films "Cemetery of Splendour" - poetisch-surreales Militärhospital-Drama aus Thailand von Apichatpong Weerasethakul

 

und hier ein Interview mit Apichatpong Weerasethakul über "Cemetery of Splendour"

 

und hier eine Besprechung des Films "Suspiria" – originelle Neuinterpretation des Giallo-Horrorklassikers von Dario Argento durch Luca Guadagnino mit Tilda Swinton

 

und hier eine Besprechung des Films "Only Lovers Left Alive" – feinsinnige Vampirfilm-Parodie von Jim Jarmusch mit Tilda Swinton.

 

„Memoria“, sein erster in Lateinamerika gedrehter Film, lässt sich als Weerasethakuls persönliche Version des magischen Realismus deuten. Dabei lässt er sich völlig auf lokale Gegebenheiten ein, obwohl der Film im Prinzip überall auf der Welt spielen könnte. Bogotá, die Geräusche der Stadt, tropischer Regen und in den abschließenden Szenen von Urwald bewachsene Berge bilden ideale Schauplätze für die versponnene Geschichte, die am Ende noch einen Haken in Richtung Science-Fiction schlägt.

 

Wie Erwachen aus einem Traum

 

Dieser Film zählt zu jenen, in dem die Tonspur die Führung übernimmt; manchmal verrät sie mehr als die Bilder. Dabei gibt sich „Memoria“ anfangs fast naturalistisch wie ein zeitgenössischer Dokumentarfilm, etwa in der Szene im Tonstudio, oder wenn Jessica und Hernán einen Hersteller von Kühltruhen für Schnittblumen aufsuchen.

 

Die Magie dagegen äußert sich zunächst nur in jenem mysteriösen Geräusch, verdichtet sich aber allmählich, bis sie die Handlung schließlich ganz beherrscht. Dadurch ähnelt das Ende dem Erwachen aus einem Traum: In ihm finden disparate Elemente aus Wissenschaft und Mythologie mit Weerasethakuls eigenen Ideen über Mensch, Natur und Gedächtnis für einen Moment zu einer – hinterher unerklärlichen – Harmonie.

 

Ab 5.8.2022 bei MUBI