Berlin

Opera Opera – Allegro ma non troppo

Vanessa Beecroft: Detail, VB74, 2014–2018, Vanessa Beecroft Performance, 2014, Digital-C-Print auf Diasec, 177,8 x 228,6 cm. Foto: Luis Do Rosario, Image Courtesy Fondazione MAXXI, © Vanessa Beecroft
Heiter, aber nicht zu sehr: Das PalaisPopulaire zeigt Werke von 35 Gegenwartskünstlern, die sich mit dem Musiktheater beschäftigen. Die meisten Beiträge kommen aus dem MAXXI-Museum in Rom, doch italienischer Belcanto-Schmelz bleibt außen vor – die Schau ähnelt eher deutschem Regietheater.

Ein „Kraftwerk der Gefühle“ hat der multimediale Tausendsassa Alexander Kluge sie genannt: In der Oper werden alle Affekte hemmungslos ausagiert, besungen und mit allerlei Bühnentricks bis zur höchsten Intensität gesteigert. Das mag erklären, warum die Oper in jüngster Zeit eine erstaunliche Renaissance erlebt: In der heutigen verwalteten und durchökonomisierten Welt bietet sie eines der letzten Reservate, um Emotionen freien Lauf zu lassen. Hier sind Tränen nicht nur erlaubt, sondern erwünscht.

 

Info

 

Opera Opera –
Allegro ma non troppo

 

27.04.2022 - 22.08.2022

täglich außer dienstags 11 bis 18 Uhr,

donnerstags bis 21 Uhr

im PalaisPopulaire, Unter den Linden 5, Berlin

 

Katalog 25 €

 

Weitere Informationen zur Ausstellung

 

Kein Wunder, dass auch bildende Künstler gern das Gefühlsreservoir der Oper anzapfen, um die Erlebnisqualität ihrer Werke zu steigern: sei es durch metaphorische Anleihen, eigene Beiträge wie etwa Bühnenbild-Entwürfe oder komplette Inszenierungen. Die Oper ist auch diejenige Kunstform mit den meisten Mitwirkenden: Bedeutende Häuser beschäftigen mehrere Hundert Angestellte, von den Werkstätten bis zu Platzanweisern, dazu zahlreiche Gäste.

 

Singspiel + kreatives Werk an sich

 

Auf den Doppelcharakter der Oper – einerseits Emotions-Reaktor, andererseits Künstler-Großbetrieb – spielt der Titel der Ausstellung im PalaisPopulaire an: „Opera“ bezeichnet auf Italienisch sowohl das Singspiel als auch ein kreatives Werk. Der italienische Name der Schau verweist auf den Kooperationspartner: Das MAXXI in Rom wurde 2010 als „Nationales Museum der Künste des XXI. Jahrhunderts“ eröffnet. Aus seiner Sammlung stammen die meisten der 35 Exponate; etwa zwei Drittel wurden von italienischen Künstlern geschaffen.

Interview mit Direktorin Svenja von Reichenbach + Impressionen der Ausstellung


 

Kronleuchter für Obdachlose

 

Unterteilt ist die Ausstellung in vier Bereiche, die verschiedenen Zonen des Opernbetriebs entsprechen. Die Schauseite im Außenraum heißt „Stage“ („Bühne“): Als Blickfang lockt eine Installation von Marinella Senatore die Passanten Unter den Linden an. Auf einem kleinen Podest erinnert eine leuchtende Scheibe aus elektrisch blinkenden Ringen an die Miniaturversion von Jahrmarkt-Riesenrädern; mit solchen Gebilden aus bunten Lichterketten werden häufig Fassaden bei Volksfesten in Süditalien geschmückt.

 

Im Treppenhaus empfängt der nächste glänzende Kreis die Besucher: ein überdimensionaler Kronleuchter – an dem eine Strickleiter hängt. Man muss die Wendeltreppe hinaufsteigen, um zu bemerken, dass im Leuchter ein zerwühlter Schlafsack aus Pelz samt Tischlampe liegen. Scheinbar der Ruheplatz eines Unbehausten, der sich im Foyer-Symbol des theatralischen Luxus’ wohnlich eingerichtet hat. Noch eindrucksvoller wäre „Climbing“ vom Mailänder Künstlerduos Vedovamazzei, wenn sich zuweilen reale Obdachlose darin niederließen.

 

Synästhetische Überwältigung

 

Die Abteilung „Prelude“ („Vorspiel“) beschallt unüberhörbar Philippe Rahm: Der Schweizer Architekt hat ein Klavierstück von Claude Debussy in zahlreiche Auszüge zerlegt. Jeder erklingt in einem von 130 Lautsprechern, die über alle vier Wände eines Raums verteilt sind, den farbige Neonröhren erhellen; läuft man hindurch, ändert sich der Klangeindruck bei jedem Schritt. Darf diese Installation als Hommage an das synästhetische Überwältigungs-Potential der Oper gelten, geht es im Untergeschoss deutlich nüchterner zu.

 

Sinnigerweise wird sie „Backstage“ genannt: Hinter den Kulissen ist Oper vor allem harte Arbeit. Angefangen mit der kostspieligen Architektur, in der sie beheimatet ist; drei Modelle stehen für unterschiedliche Konzepte von Musiktheater. Aldo Rossi modernisierte in den 1980/90er Jahren das im Zweiten Weltkrieg zerstörte Teatro Carlo Felice in Genua, stellte aber seine klassizistische Fassade wieder her.

 

Arie am Parlaments-Rednerpult

 

Nach Plänen von Renzo Piano wurde 1994 bis 2002 in Rom das Auditorium Parco della Musica errichtet: als drei organisch geformte Säle, deren Position auf die Ausgrabungs-Reste einer antiken Villa abgestimmt ist. Das lang gestreckte „Teatro ai Ruderi“, das Francesco Venezia 1990 für die sizilianische Gemeinde Gibellina entwarf, die 1968 durch ein Erdbeben zerstört worden war, existiert nur auf bzw. aus Papier: Es wurde nie gebaut.

 

Wie sehr die Theatralik der Oper auf das öffentliche Leben abfärben kann, zeigen Fotografien von Armin Linke: Der Plenarsaal der Abgeordnetenkammer im römischen Palazzo Montecitorio ist derart pompös eingerichtet, dass jeder Auftritt am Rednerpult gleichsam zur Arie wird. Dagegen wirken Szenenfotos von Inszenierungen der New Yorker Truppe „The Living Theatre“, dessen europäischer Ableger in Italien angesiedelt ist, eher pantomimisch.

 

Chor aus kaum verhüllten Damen

 

Genuin italienische Wurzeln des Musiktheaters verteilt Luca Vitone im Raum: Aus 20 hölzernen Stelen, einer für jede italienische Region, erklingen traditionelle Gesänge aus der jeweiligen Gegend. „Sonorizzare il luogo“ („Den Ort vertonen“) ist tatsächlich eine akustische Grand Tour durch das gesamte Land – wie im Alltag übertönen lautere Stimmen die leisen.

 

Dem „Theatre of the Everyday“ sind die Beiträge im Obergeschoss gewidmet. Eingangs macht ein tableau vivant der gebürtigen Genueserin Vanessa Beecroft die Verbindung von Oper und Mode anschaulich. Gleich dem Chor auf einer Bühne posieren Dutzende nur von Gazeschleiern verhüllte Damen 2014 im MAXXI – primäre Sinnesreize reichen als Hingucker aus, wie auf dem Laufsteg der Straße.

 

Pathosformeln + Kohlestift-Filme

 

Hintergrund

 

Lesen Sie hier eine Rezension der Ausstellung "Die Oper als Welt – Die Suche nach einem Gesamtkunstwerk" – facettenreiche Themenschau im Centre Pompidou-Metz

 

und hier eine Besprechung der Ausstellung "Unheimlich real: Italienische Malerei der 1920er Jahre" – erste deutsche Schau über den Magischen Realismus im Museum Folkwang, Essen

 

und hier einen Bericht über die Ausstellung "William Kentridge - Fünf Themen" mit Werken zu seiner Inszenierung der Oper "Die Nase" von Schostakowitsch in der Albertina, Wien

 

und hier einen Beitrag über die Ausstellung "Giorgio de Chirico - Magie der Moderne" – eindrucksvolle Retrospektive des italienischen Avantgardisten in der Staatsgalerie, Stuttgart.

 

Gänzlich nackt, aber durch kunsthistorische Tradition geadelt, warf sich Luigi Ontani schon 1970 in die Haltungen von Michelangelos Statuen: Seine Ganzkörper-Fotos deklinieren geläufige Pathosformeln durch, derer sich Opernaufführungen bis heute bedienen.

 

Kaum ein zeitgenössischer Künstler hat damit mehr Erfahrung als William Kentridge: Der Südafrikaner inszenierte selbst ein halbes Dutzend Opern, von Monteverdi und Mozart bis zu Alban Berg und Schostakowitsch. Hier sind seine Vorbereitungen für „Die Zauberflöte“ von 2005 zu sehen: In einer Guckkasten-Bühne laufen Animationsfilme ab, die Kentridge aus den für ihn typischen Kohlestift-Zeichnungen kreiert hat.

 

Allein im Rampenlicht stehen

 

Am Ende kann der Betrachter den Spieß umdrehen. Bei Grazia Toderis Videoprojektion steht er gleichsam als Akteur im Rampenlicht und blickt von der Bühne in den voll besetzten, aber eigenartig stillen Zuschauerraum; hier und da blitzen Kameras auf.

 

Die Vorstellung ist vorbei, aber der Applaus bleibt aus? Gewiss nicht, aber diese Schau setzt weniger auf sinnesprallen Pomp und kulinarischen Schmelz, die man gemeinhin mit der italienischen Operntradition verbindet. Sie ähnelt eher deutschem Regietheater: voller eigenwilliger Einfälle und Überraschungen. Nicht jede erschließt sich sofort, und bei manchen bleibt ihre Funktion für die Partitur bis zum Ende unklar. Wodurch solche Eindrücke aber haften bleiben und nachhallen – wie bei jeder gelungenen Inszenierung.