Joachim Trier

Der schlimmste Mensch der Welt

Magischer Moment: Julie (Renate Reinsve) und Eivind (Herbert Nordrum) verbringen zusammen einen unvergesslichen Abend. Foto: © Oslo Pictures
(Kinostart: 2.6.) Wankelmut tut ihr sehr gut: Regisseur Joachim Trier porträtiert eine junge Osloerin, die sich mit Anfang 30 noch alle Optionen offen hält – auch bei Männern. Die eigenwillige Coming-of-Age-Tragikomödie pendelt geschickt zwischen Handlung und Reflexion.

Das dürfte eine der seltsamsten Flirtszenen der jüngeren Filmgeschichte ein: Julie (Renate Reinsve) und Eivind (Herbert Nordrum) lernen sich auf einer Hochzeitsfeier kennen. Sie sind auf den ersten Blick voneinander fasziniert und loten sofort die Grenzen der Treue aus –  schließlich wollen sie ihre abwesenden Partner nicht betrügen. Aber auch nicht voneinander lassen: Wird man untreu, wenn man sich gegenseitig beschnüffelt oder gemeinsam auf die Toilette geht, noch bevor man sich geküsst hat?

 

Info

 

Der schlimmste Mensch der Welt

 

Regie: Joachim Trier,

128 Min., Norwegen 2021;

mit: Renate Reinsve, Anders Danielsen Lie, Herbert Nordrum

 

Weitere Informationen zum Film

 

Eigentlich ist Julie mit dem rund 15 Jahre älteren Aksel (Anders Danielsen Lie) zusammen, einem erfolgreichen Comiczeichner. Im Grunde sind beide miteinander glücklich – solange sie den Zankapfel Familienplanung außen vor lassen. Aksel hätte gern Kinder; Julie weiß jedoch nicht, ob sie jemals dafür bereit sein wird.

 

Locker, flockig, instagramtauglich

 

Ohnehin ist die talentierte junge Frau mit Anfang 30 noch immer auf der Suche nach sich selbst. Sie hat mehrfach ihr Studium abgebrochen, fotografiert und schreibt; nebenher jobbt sie in einem Buchladen. Julies Leben erscheint als Kosmos voller unausgeschöpfter Möglichkeiten: locker, flockig, instagramtauglich. Über allem schwebt die Frage, was sie eigentlich vom Leben will.

Offizieller Filmtrailer


 

Rückblicke auf die Vorfahren

 

Das mag oberflächlich erscheinen, doch Julie ist ein Kind ihrer Zeit und Gesellschaft: Als eines der reichsten und liberalsten Länder der Welt bietet Norwegen jede Menge soziale Sicherheit. Wo, wenn nicht hier, können sich Menschen erlauben, der Verwirklichung ihrer Träume nachzujagen? Doch die ersehnte (Wahl-)Freiheit überfordert auch: Wer für sein Glück ausschließlich selbst verantwortlich ist, kann niemanden und nichts die Schuld geben, wenn sein Leben weniger rosig verläuft als erhofft.

 

Diese Coming-of-Age-Story für sinnsuchende junge Erwachsene inszeniert der norwegische Regisseur Joachim Trier mit leichter Hand. Dabei wechselt er immer wieder auf die Metaebene. Sei es durch eine Erzählstimme, die durch einige der zwölf Filmkapitel führt. Oder indem er am 30. Geburtstag seiner Protagonistin zeigt, wie es ihren Vorfahren in diesem Alter ergangen war. Die meisten Frauen hatten Kinder und/oder standen mitten im Berufsleben; andere waren bereits gestorben.

 

Sex im Me-too-Zeitalter

 

Solche Ebenen-Wechsel von der Handlung zur Reflexion unterscheiden den Film von geläufigen Mustern des Romcom-Genres. Allerdings werden weiterführende Gedanken nur kurz angerissen; ob es nun um Sex im Me-too-Zeitalter geht oder darum, wie physische Popkultur-Träger wie Schallplatten oder Bücher zugunsten des Virtuellen verschwinden. Dabei entspricht der hin und her flackernde Fokus dem Zeitgeist mit seiner geringen Aufmerksamkeitsspanne.

 

Hintergrund

 

Lesen Sie hier eine Rezension des Films "Wo in Paris die Sonne aufgeht" - wunderbar leichthändig inszenierte Vierecksbeziehung von Jacques Audiard

 

und hier eine Besprechung des Films "Licorice Pizza" - zitierfreudige Sittenkomödie über Jugendliche im Kalifornien der 1970er Jahre von Paul Thomas Anderson

 

und hier einen Bericht über den Film "Lady Bird" - stimmiges Coming-of-Age-Porträt einer 17-Jährigen von Greta Gerwig mit Saoirse Ronan

 

und hier ein Beitrag über den Film "Turn me on!" - sinnliche Teenager-Tragikomödie aus Norwegen von Jannicke Systad Jacobsen.

 

Doch Regisseur Trier moralisiert nicht. Er bringt seiner jungen Heldin und ihrer emsigen Suche nach dem für sie richtigen Lebensweg viel Sympathie entgegen. Wobei Trier allen seinen Protagonisten Ecken und Kanten zugesteht; insbesondere Julie tritt in ihrer mitunter egoistischen Suche nach sich selbst gegenüber ihren Partnern zeitweise sehr verletzend auf.

 

Für Liebende steht Welt still

 

Renate Reinsve spielt sie mit erfrischender Unmittelbarkeit; sie vermittelt sowohl die komischen wie die tragischen Züge ihrer Figur sehr überzeugend. Dafür wurde sie beim Festival in Cannes 2021 als beste Darstellerin ausgezeichnet.

 

In der eindrücklichsten Szene des Filmes rennt sie auf dem Weg zu ihrer neuen Liebe Eivind durch Oslo. Dabei stehen plötzlich alle anderen Menschen still, während die beiden frisch Verliebten ganz ineinander versunken sind. Schöner kann man den Zauber eines Anfangs kaum zeigen.

 

Und was bleibt von mir?

 

Doch irgendwann bekommt auch Julie den Ernst des Lebens zu spüren: durch Tod und Verlust. Der Horizont der Möglichkeiten verengt sich und ihr drängt sich die Frage auf: Was bleibt am Ende wohl von mir? Es fehlt ihr nicht an Mut, sich ihr zu stellen – ohne fertige Antworten darauf.