Berlin

12. Berlin Biennale für zeitgenössische Kunst – Still Present!

Mai Nguyễn-Long: Specimen (Permate), 2022; Haushaltsgefäße und gefundene Objekte. Foto: dotgain.info, Fotoquelle: 12.berlinbiennale.de
Kunst als Antwort auf drei große Menschheitsfragen: Für die 12. Berlin Biennale hat sich Kurator Kader Attia viel vorgenommen. Das können die 70 Teilnehmer kaum einlösen: Die meisten Beiträge verausgaben sich in überambitionierten Materialschlachten oder drastischer Elends-Dokumentation.

„Still Present!“ ist ein verdächtig vieldeutiges Motto für eine Ausstellung aktueller Kunst. „Immer noch da!“ wäre eine wenig schmeichelhafte, aber treffende Übersetzung: Zur zwölften Ausgabe stellt sich die Frage nach ihrer Daseinsberechtigung dringlicher denn je.

 

Info

 

12. Berlin Biennale für zeitgenössische Kunst – Still Present!

 

11.06.2022 - 18.09.2022

täglich außer dienstags 11 bis 19 Uhr,

donnerstags bis 21 Uhr

an fünf Ausstellungsorten in Berlin

 

Website zur Ausstellung

 

1998 in der ausklingenden Spaßgesellschaft gegründet, konnte sich die Berlin Biennale nie so recht im Kunstbetrieb etablieren. In ihrer ersten Dekade schlingerte sie ziemlich profillos hin und her. Das änderte sich spätestens mit der 7. Biennale 2012: Kurator Artur Żmijewski verwandelte sie in ein Agitprop-Spektakel wie 1968 selig. Seither versteht sich die Berlin Biennale als betont kritisch und politisch – passend zur Hauptstadt, die sich gern für antiautoritär und aufmüpfig hält.

 

Sendungsbewusster KW-Stammgast

 

Das funktionierte manchmal mehr, meist weniger. Für die 12. Biennale wurde erstmals seit Żmijewski wieder ein Künstler als Kurator engagiert: Kader Attia ist ein sendungsbewusster Franzose algerischer Herkunft. Im Biennale-Stammhaus „KW Institute for Contemporary Art“, den früheren Kunst-Werken, hat er bereits zwei Mal ausgestellt; zuletzt 2013 Artefakte und Memorabilia, die daran erinnerten, wie die Kolonialmächte im Ersten Weltkrieg Afrikaner als Soldaten verheizten.

Impressionen der Kunstausstellung in der Akademie der Künste, im Hamburger Bahnhof + den KW (KunstWerken)


 

Klimakrise + Kolonialismus

 

Im Kontext aktueller postkolonialer Debatten scheint Attia genau der Richtige für einen großen Wurf. Wortreich klagt er in seinen Texten und Vorträgen die Verstrickung Europas in Kolonialismus, Faschismus, Imperialismus, Industrialisierung und drohender Öko-Katastrophe als düsteres Erbe der Aufklärung an – also das, was vor einem halben Jahrhundert gern der „universelle Verblendungszusammenhang“ genannt wurde.

 

Für die Biennale formuliert Attia drei Leitfragen: „Wie lässt sich eine Dekolonisierung der Künste denken – von der Restitution geplünderter Güter bis hin zu einer antikolonialen Erinnerungskultur? Welche Rolle können feministische Bewegungen aus der nichtwestlichen Welt bei der Wiederaneignung von Geschichte und Identität spielen? Wie hängen Klimakrise und Kolonialismus zusammen?“ Große, geradezu universelle Fragen – versteht sich, dass die Ausstellung sie nicht beantwortet. Aber man kann es ja versuchen.

 

Layout-Revolution mit Kipp-Texten

 

Etwa mit einem Reigen von sieben Konferenzen und Workshops zu „imperialer Ökologie“, Afrofeminismus oder digitaler Spaltung, auf denen etliche Dekolonisierungs-Vordenker auftreten werden. Die erste umstürzlerische Leistung der Biennale findet sich in ihren Publikationen, dem Programm und dem Katalog: Während englischer Text normal gesetzt ist, wird die deutsche Fassung um 90 Grad nach links gekippt. Die Revolution beginnt also im Layout, damit das Denken die Richtung wechseln kann.

 

Bleierne Verhältnisse lassen sich nur mit vereinten Kräften ändern. Dafür hat Attia ein fünfköpfiges Team engagiert, darunter die Vietnamesin Đỗ Tường Linh, die in Beirut aufgewachsene Rasha Salti und Marie Helene Pereira, die im Senegal lebt und oft in Indien gearbeitet hat. So finden sich unter den 70 vertretenen Künstlern viele aus Vietnam, der arabischen Welt und dem indischen Subkontinent. Ein Akt ausgleichender Gerechtigkeit: Das lateinamerikanische Kuratorenteam der 11. Biennale hatte vor allem spanischsprachige Künstler ausgewählt. Nun sind andere Weltgegenden an der Reihe.

 

Vietnam betört, Südasien verstört

 

Wobei regionale Unterschiede auffallen: Vietnamesische Teilnehmer pflegen durchweg ausgefeilte Ästhetiken. Sie verpacken ihre Themen in fantasievoll ansprechende Arrangements; der Sehsinn soll betört werden. Dagegen setzen Südasiaten eher auf Drastisches und Verstörendes, während arabische Künstler vor allem zu Fotografie und Videofilmen greifen, um ihre Botschaften zu bebildern.

 

Gemeinsam ist ihnen die Empörung über das Elend in der Welt. Deneth Piumakshi Veda Arachchige erinnert an koloniale Erfassung und Unterdrückung der indigenen Adivasi auf Sri Lanka. Dazu hat sie sich selbst als nackte Ganzkörper-Skulptur modelliert; mit Vermessungs-Merkmalen und der Nachbildung eines Ahnen-Schädels in den Händen. Ammar Bouras rekonstruiert einen missglückten Atomwaffentest französischer Militärs in Algerien 1962, bei dem Radioaktivität in die Atmosphäre entwich. Solche Tests verseuchten Landstriche weltweit bis heute.

 

Kuhfladen in Vulva-Form

 

Die gebürtige Senegalesin Binta Diaw bedeckt den Boden mit verknüpften Seilen aus Haaren; mit ähnlichen Echthaar-Flechtwerken sollen versklavte Frauen früher Karten angelegt haben, um Fluchtpläne zu schmieden. Die Polin Zuzanna Hertzberg errichtet für jüdische Widerständlerinnen gegen die NS-Besatzung ein Mahnmal aus Wandzeitungen. Und Sammy Baloji steckt tropische Pflanzen in einen Glascontainer in Kristallform, um an koloniale Ausbeutung von Flora und Bodenschätzen im Kongo zu erinnern.

 

Historische Erblasten verblassen aber angesichts heutiger Missstände. Dana Levy beleuchtet multimedial, wie die von Israel errichtete Betonmauer das Leben der Palästinenser einschränkt. Nil Yalter interviewt türkische Frauen zur Mühsal des Daseins im Exil. Etinosa Yvonne porträtiert Frauen, die Opfer von Gewalt und Vertreibung in Nordost-Nigeria wurden. Mathieu Pernot widmet einer weit verzweigten Roma-Familie im südfranzösischen Arles eine ausufernde Fotoserie auf drei Wänden plus Video-Interviews. Um Prüderie und Sexismus in Indien anzuprangern, pflastert Mayuri Chari eine ganze Wand mit Kuhfladen in Vulva-Form.

 

Labyrinth an der Ekelgrenze

 

Noch näher an der Ekelgrenze operiert Jean-Jacques Lebel: Aus den sattsam bekannten Schockfotos von US-Folterszenen im irakischen Gefängnis Abu Ghraib 2003 baut er ein Labyrinth, in dem Besucher zwischen gequälten und blutverschmierten Leibern herumirren. Die Bilder sind berühmt-berüchtigt, der Effekt ist abstoßend. Das wirft die Frage nach dem Erkenntniswert derartiger engagierter Kunst auf.

 

Mit enormem Aufwand werden Daten zusammengetragen und zu Collagen oder Computersimulationen verarbeitet, die meist nur ein geläufiges factum brutum belegen: So ist es – und das ist schlecht. Wobei das Wühlen in Archiven häufig mit begrifflichen Unschärfen oder schlichten Fehlern einhergeht: Da ist etwa vom „antikommunistischen Regime Frankreichs während des Zweiten Weltkriegs“ oder einem „neofaschistischen Moralkodex“ in Indien die Rede.

 

Kreuzweg-Zyklus im Dschungel

 

Hintergrund

 

Lesen Sie hier eine Rezension der Ausstellung "11. Berlin Biennale für zeitgenössische Kunst - Der Riss beginnt im Inneren" in Berlin 2020

 

und hier eine Besprechung der Ausstellung "10. Berlin Biennale für zeitgenössische Kunst – We don’t need another hero" in Berlin 2018

 

und hier ein Beitrag über der Ausstellung "9. Berlin Biennale – The Present in Drag" in Berlin 2016

 

und hier ein Bericht über die Ausstellung "Kader Attia: Reparatur – 5 Akte" mit Werken zur Kolonialgeschichte Afrikas im KW Institute for Contemporary Art, Berlin.

 

Der ärgste Schnitzer passiert Ariella Aïsha Azoulay: Für ihre Großinstallation „The Natural History of Rape“ zitiert sie ausführlich aus dem Tagebuch „Anonyma: Eine Frau in Berlin“ über Vergewaltigungen von Rotarmisten bei Kriegsende, das 1955 erschienen war. Die Neuveröffentlichung 2003 wurde ein Bestseller – doch das Buch entpuppte sich als stark literarisiertes Werk der Journalistin Marta Hiller, das kaum als historische Quelle gelten darf. Gleichviel: Richtige Gesinnung zählt mehr als Recherche.

 

Dann sollte man jedoch auf den Anspruch des Dokumentarischen verzichten, den Texte oder Filme ohnehin besser erfüllen. Was bildende Kunst in diesem Kontext zu leisten vermag, zeigen am ehesten ganz altmodische Tafelbilder. Etwa der Kreuzweg-Zyklus von Tammy Nguyen: Sie verlegt die 14 Stationen von Jesus’ Leidensweg in einen Urwald. Der Erlöser wird von bunt schillernden Schlingpflanzen eingehüllt und geradezu durchdrungen – eine grandiose Metapher für das Paradox, dass das Christentum in weiten Teilen der Welt zwar ein kolonialer Import, aber zugleich spiritueller Halt gegen Ausbeutung und Gewalt darstellt.

 

Solches Transzendieren nackter Tatsachen bietet die Ausstellung nur selten – und Lösungen für globale Probleme ebenso wenig. Was verzeihlich wäre, würde Kurator Attia nicht so vollmundige Ansprüche formulieren. Da reicht ein trotziges „Immer noch da!“ als Existenzbegründung nicht aus.