Ein Mann sieht Gelb: Mehr als jeder andere Regisseur hat Dario Argento den italienischen Giallo geprägt. Benannt ist diese Spielart erotisch aufgeladenen Horrors nach der letteratura gialla. Solche gelben Heftchen mit leicht konsumierbaren Thrillern erlebten ihre Blütezeit Mitte des 20. Jahrhunderts, bevor das Genre in den 1960er Jahren auch die Kinos eroberte. Hier schwelgten diese Filme in wahren Farbräuschen aus nächtlichem Blau, gaslichtigem Gelb und – vor allem – blutigem Rot.
Info
Dark Glasses – Blinde Angst
Regie: Dario Argento,
86 Min., Italien/ Frankreich 2022;
mit: Ilenia Pastorelli, Asia Argento, Xinyu Zhang, Andrea Gherpelli
Weitere Informationen zum Film
Weder Sonne noch Tod direkt anstarren
Nachdem es ein Jahrzehnt lang still um ihn geworden war, meldet sich der 82-Jährige nun mit einem Alterswerk zurück. Der Anfang ist fulminant: Vor der irreal anmutenden Kulisse einer Sonnenfinsternis fährt und läuft Diana (Ilenia Pastorelli), eine Luxushure in rotem Kleid, leicht somnambul durch ein römisches Neubauviertel. Die Kamera schwebt, alles strahlt in tiefmetallischem Blau. Begleitet wird das Naturschauspiel von bedeutungsschwangeren Sätzen wie: „Weder die Sonne noch den Tod kann man direkt anstarren.“
Offizieller Filmtrailer
Sadistischer Schlitzer im Lieferwagen
Fortan spult sich die Handlung jedoch so schematisch ab, als wäre sie in einem Horrordrehbuch-Grundkurs entstanden. Wohlwollende und gewalttätige Freier treten auf. Ein Prostituiertenmörder geht um und metzelt zum Auftakt eine Kollegin Dianas detailverliebt dahin. Schaulustige sind wenig hilfreich, und ermittelnde Polizisten unterhalten sich so hölzern wie einst bei Edgar-Wallace-Filmen oder in der TV-Serie „Derrick“.
Bald hat es der sadistische Schlitzer auf Diana abgesehen, die er in einem Lieferwagen verfolgt. Bei der Verfolgungsjagd durchs nächtliche Rom provoziert er einen Unfall, der sie ihr Augenlicht kostet. Von nun an taucht sie ein in eine dunkle, schreckliche Welt, in der allein die Angst regiert – ein Echo der astronomischen Verfinsterung des Planeten.
Mütterlich motiviertes Buddy-Movie
Die einzige Abweichung vom altbackenen Wechselspiel aus Morden und Fluchten bis zum vorhersehbaren Ende bildet die Einführung der Figur Chin (Xinyu Zhang). Er ist ein kleiner chinesischer Junge, dessen Eltern beim Zusammenstoß mit Dianas Wagen ums Leben gekommen sind. Nun kümmert sie sich um ihn, während sie selbst lernen muss, mit ihrer Behinderung zurechtzukommen.
Zwischen den beiden Außenseitern entspinnt sich – auch das nur bedingt originell – eine Art mütterlich motiviertes Buddy-Movie. Wobei ihre gemeinsame Reise immer tiefer in kalte Schwärze voller Gewalt und – immerhin – wimmelnder Schlangengruben führt. Leider sagen sie dabei wenig mehr als Sätze wie „Wo bist du bloß?“, „Ich bin hier!“, „Du warst weg!“ und „Es ist alles meine Schuld!“
Anreißen + fallenlassen
Hintergrund
Lesen Sie hier eine Rezension des Films "Suspiria" – originelle Neuinterpretation des Giallo-Horrorklassikers von Dario Argento durch Luca Guadagnino mit Tilda Swinton
und hier eine Besprechung des Films "Missverstanden – Incompresa" – Kindheits-Drama eines vernachlässigten Mädchens in Rom von Asia Argento
und hier einen Beitrag über den Film "Messer im Herz" - schräger Giallo-Krimi über Morde im Schwulenporno-Milieu von Yann Gonzalez
und hier einen Bericht über den Film "The Strange Colour of Your Body’s Tears" – labyrinthischer Erotik-Thriller nach dem Vorbild von Giallo-Regisseur Dario Argento von Hélène Cattet + Bruno Forzani.
Dass sich das alles auf opulent schillernden Oberflächen abspielt, kann man einem Genre, das vor allem auf visuelle Schauwerte abzielt, kaum vorwerfen. Dass der Film trotz aller Selbstzitate nie an eindrucksvolle Momente aus Argentos Filmographie heranreicht, hingegen schon.
Sic transit gloria mundi
Alles wirkt routiniert lieb- und einfallslos umgesetzt. Das gilt insbesondere für die synthesizerlastig verspielte Filmmusik, die unbedingt ätherisch wie Vorbilder der 1970/80er Jahre klingen will, aber sich sehr schnell nur angestrengt und redundant anhört. Auch manche Szenen mit Schockmomenten erscheinen weniger naturalistisch schonungslos als vielmehr absurd und albern.
Vor 45 Jahren mag derlei noch beeindruckt haben, wie etwa in „Suspiria“ (1977), der als Argentos Meisterwerk gilt. Nur: Damals gab es wenig Vergleichbares – inzwischen ist das schlicht überholt.