Kassel

documenta fifteen

Das bunt bemalte ruru-Haus in der Kasseler City ist das Info-Zentrum der documenta. Foto: Nicolas Wefers
Die documenta ist tot, es lebe die documenta: Die weltgrößte Ausstellung für zeitgenössische Kunst wird vom indonesischen ruangrupa-Kollektiv völlig umgekrempelt – und in ein gut gelauntes Graswurzel-Initativen-Festival im durchökonomisiert-pazifischen Zeitalter verwandelt.

Netzwerk + Mini-Majelis mit 1000 Leuten

 

Zugleich ist Indonesien als junge Demokratie noch in vielfacher Hinsicht vom autoritären Erbe der Suharto-Diktatur bis 1998 belastet. Die Spielräume sind beachtlich, aber nicht schrankenlos; dafür sorgt soziale Kontrolle. In diesem Umfeld entfaltet das ruangrupa-Kollektiv seit 2000 eine Vielzahl von Aktivitäten, die nach westlichen Maßstäben eine Mischung aus Nachbarschaftszentrum, Volkshochschule, Jugendclub und Sozialarbeit darstellen – Kunst im engeren Sinne kommt dabei auch irgendwie vor.

 

An seinem Verständnis kreativer Selbstorganisation hat ruangrupa auch die documenta ausgerichtet: Zunächst berief das Kollektiv fünf Vertrauensleute ins „Künstlerische Team“. Dann wurden 14 andere Initiativen weltweit aufgerufen, gemeinsam ein Lumbung-Netzwerk zu knüpfen. Überdies wurden mehr als 50 Gruppen und Einzelkünstler eingeladen und in neun „Mini-Majelis“ organisiert – sie mussten ihnen zur Verfügung gestellte Ressourcen unter sich aufteilen. Insgesamt sind rund 1000 Leute mehr oder weniger an dieser Schau beteiligt; sie durften weitgehend selbst entscheiden, wie sie zur documenta beitragen.

 

Keine Alphatiere im Vorfeld

 

Dieses verwirrend vielschichtige Verfahren verwischt zwar sämtliche persönliche Verantwortung. Und es lief nicht konfliktfrei ab: Manche Gruppen haben sich zerstritten und gespalten, hört man – jedenfalls sind einige von ihnen an mehreren Orten mit ganz unterschiedlichen Arbeiten vertreten. Doch zumindest wurde die sonst übliche Profilierung und medienwirksamer Starkult verhindert: Weder ruangrupa-Mitglieder noch sonstige documenta-Teilnehmer sind im Vorfeld als Alphatiere hervorgetreten. Eine revolutionäre Errungenschaft.

 

Frei von sattsam bekannter Polit-Protestkunst ist aber auch diese documenta nicht – im Gegenteil. „The Black Archives“ aus Amsterdam wuchten Hunderte von Objekten ins Fridericianum, um daran zu erinnern, dass auch Schwarze in Surinam unterdrückt wurden. „Siwa Plateforme“ dokumentiert multimedial die Trostlosigkeit einer tunesischen Provinzstadt. Manche Gruppen finden für ihr Anliegen originellere Darstellungsformen.

 

Aborigines-Protest mit Regierungs-Unterstützung

 

„Wajukuu Art Project“ hat Eingang und Foyer der documenta-Halle mit rostigen Wellblechen verkleidet, die das Wohngefühl von Slums in Nairobi vermitteln; Groß-Skulpturen aus Hunderten von Messern erscheinen so verführerisch wie bedrohlich. Das „Instituto de Artivismo Hannah Arendt (INSTAR)“ aus Havanna veranschaulicht mit augenlosen Antlitz-Masken, welchen Repressalien kritische Intellektuelle auf Kuba ausgesetzt sind. Und „Taring Padi“ führt die tausend Gesichter der indonesischen Paraden-Kultur vor: Fantasievolle Pappkarton-Puppen auf Stangen füllen einen ganzen Schilderwald vor dem Fridericianum.

 

Das Patchwork der Minderheiten kommt ebenfalls zu seinem Recht: Richard Bell malt in Popart-Manier Aborigines, die für die Rückgabe von Land demonstrieren. Er hat zudem ein „Aboriginal Embassy“-Zelt auf dem Friedrichsplatz aufgestellt; mit freundlicher Unterstützung der australischen Regierung und des nationalen Kulturrats. Die britischen „Project Art Works“ lassen „neurodiverse Menschen“, also geistig Behinderte oder Autisten, malen oder töpfern; die Ergebnisse dieser Kunsttherapie füllen einen ganzen Raum.

 

Bis zu 15 Veranstaltungen täglich

 

Handwerklich hochwertigere Erzeugnisse präsentiert die „Off-Biennale Budapest“: Malerei und andere Arbeiten von Roma-Künstlern mehrerer Generationen. Blickfang ist das wandfüllende Monumentalgemälde des 1994 verstorbenen Tamás Péli; figurenreich stellt es einen erfundenen Schöpfungsmythos der Roma im Historienmalerei-Stil des 19. Jahrhunderts dar. Ähnlichen Schauwert haben farbenfrohe Wandteppich-Collagen der polnischen Roma Małgorzata Mirga-Tas mit aktualisierten Orientalismus-Motiven aus dem 17. Jahrhundert; sie waren bereits auf der 11. Berlin Biennale zu sehen und sind es derzeit auch auf der 59. Biennale in Venedig.

 

Diese documenta-üblichen Kunstformen lässt ruangrupa weiter gewähren, rückt sie aber sacht beiseite. Um stattdessen soziale Aktivitäten ins Zentrum zu rücken: gärtnern, basteln, kochen, essen, Geschichten erzählen, Filme ansehen, Erfahrungen austauschen, Musik hören und tanzen. All das ist keineswegs neu; jede dieser Handlungsweisen wurde schon früher zur Kunst erklärt. Doch wohl noch nie mit derartiger Konsequenz: Das Programm kündigt bis zu 15 Veranstaltungen täglich an.

 

Wegrationalisierte Alternativ-Initiativen

 

Für jede denkbare Interessentengruppe, angefangen bei den Kleinsten: In der Kinderkrippe des Fridericianums können „Eltern und Babys gemeinsam lernen“. Nebenan werden Schüler und Jugendliche von „Gudskul“ aus Jakarta betreut; überdies dient die Rotunde als „Fridskul“. Ohnehin ist im zentralen Bau an jeder Ecke zu sehen, wie ruangrupa politisch korrekte Fort- mit Gemeinschaftsbildung und Spaß verbinden wollen: Überall sind Stellwände mit Zetteln, Flyern oder Aufklebern gepflastert. Riesige, von Hand gezeichnete Wimmel-Grafiken zeichnen lange Diskussions-Prozesse nach.

 

Das wird keiner komplett durchlesen – und soll es auch nicht. Statt an ein Museum erinnert dieses bunte Chaos an Treffen und Happenings alternativ bewegter Initiativen der 1960er bis 1990er Jahre: Spontis, Tunix oder Ökos, selbstverwaltete Werkstätten oder Kinderläden. Damals waren solche Neuen Sozialen- oder Graswurzel-Bewegungen flächendeckend in der westlichen Welt verbreitet. Wie restlos sie mittlerweile wegrationalisiert worden sind, zeigt sich daran, dass nun ein Kollektiv aus einem Pazifik-Staat kommen muss, um diese Praxis wiederzubeleben.

 

Talent, gute Laune zu verbreiten

 

Hintergrund

 

Lesen Sie hier eine Rezension der Ausstellung "Documenta. Politik und Kunst: Geschichte 1955 bis 1997"- im Deutschen Historischen Museum, Berlin

 

und hier eine Besprechung der "documenta 14" - Überblick über die weltgrößte Gegenwartskunst- Ausstellung 2017 in Kassel

 

und hier ein Bericht über die "dOCUMENTA (13)" - Überblick über die weltgrößte Gegenwartskunst- Ausstellung 2012 in Kassel

 

Das Diktat der Ökonomie im Kunstbetrieb lässt sich kaum knacken. Man kann es nur unterlaufen, indem man seine Institutionen kapert und gemeinnützigeren Zwecken dienstbar macht. Einen Versuch ist es wert. Ob dieses Kalkül aufgeht, hängt vor allem von der halben bis ganzen Million Besucher ab, die erwartet wird: Bleiben sie zurückhaltend oder machen sie bei den zahllosen Workshops und anderen Events aktiv mit?

 

Um ihnen letzteres leicht zu machen, steuert ruangrupa vor allem eines bei: ihr Talent, gute Laune zu verbreiten. So ließ die Gruppe bei der Pressekonferenz den Hikayat-Geschichtenerzähler Agus Nur Amal PMTOH aus Sumatra auftreten; er schilderte mit einem Mix aus Moritatengesang und Kasperletheater seine Erfahrungen mit Kassler Schülern. Viel Gelächter und Applaus dankten es ihm. Man mag davon halten, was man will – pubertärer als die moralinsaure Miesepetrigkeit eines Adam Szymczyk ist es keinesfalls.

 

Schlusswort in Leichter Sprache

 

Anstelle elitärer Exklusivität nun totale Inklusion: Die weltumarmende Geste, möglichst allen etwas zu bieten, ist wirklich ernst gemeint. Daher gebührt das Schlusswort dem kostenlosen „Info-Buch zur Ausstellung in Leichter Sprache“: „An den Ausstellungs-Orten [Ausstellungs-Orte sind Orte, wo Kunst-Werke gezeigt werden] können die Menschen viele spannende Sachen machen. Zum Beispiel: Sie können sich Kunst-Werke anschauen. Sie können bei Veranstaltungen mit-machen. Und sie können mit vielen Menschen aus verschiedenen Ländern sprechen.“ Prägnanter kann man es nicht sagen.

 

P.S.: Wie schon bei der documenta 13 und 14 wird Kunst+Film kontinuierlich über die documenta 15 berichten. Alle Beiträge finden Sie in unserem documenta-Spezial.