Arthur Harari

Onoda – 10.000 Nächte im Dschungel

Der gealterte Hirō Onoda (Kanji Tsuda) im Dschungel. Foto: © kinofreund eG 2022
(Kinostart: 2.6.) Zweiter Weltkrieg ohne Ende: Nach Japans Kapitulation 1945 kämpfte ein Soldat auf einer Pazifikinsel noch 29 Jahre weiter. Sein Guerillero-Dasein schildert Regisseur Arthur Hariri fesselnd als Robinsonade im Regenwald – und als schonungslose Studie über Realitätsverlust.

In den 1970er Jahren geisterten gelegentlich Meldungen durch die Medien, auf dieser oder jener Südsee-Insel sei ein lang vermisster japanischer Soldat entdeckt worden, der geglaubt habe, der Zweite Weltkrieg dauere noch an. Solche Nachrichten wurden hierzulande mit kopfschüttelndem Lächeln quittiert – der Pazifik-Krieg und seine Folgen waren einfach zu weit weg.

 

Info

 

Onoda – 10.000 Nächte im Dschungel 

 

Regie: Arthur Harari,

167 Min., Kambodscha/ Japan/ Frankreich 2021;

mit: Yûya Endô, Kanji Tsuda, Issey Ogata, Taiga Nakano

 

Weitere Informationen zum Film

 

In Japan war das anders. Man bewunderte die zanryū nipponhei („Nachzügler“) für ihre Standhaftigkeit, mit der sie nach Japans Kapitulation im August 1945 auf ihren Posten ausgeharrt und ihren Kampf gegen vermeintliche Feinde fortgesetzt hatten. Der populärste von ihnen war Hirō Onoda; er hatte sich bis 1974 auf der kleinen Philippinen-Insel Lubang versteckt. Ihm widmet der französische Regisseur Arthur Harari kein Biopic – eher eine freie Interpretation der Onoda-Biographie des Autors Bernard Cendron.

 

Besser als Kamikaze-Tod

 

Ende 1944: Der junge und intelligente Offiziersanwärter Onada (Yûya Endô) betrinkt sich in einer Kaschemme, weil er fürchtet, als Kamikaze-Flieger in den Tod geschickt zu werden. Das macht Major Taniguchi (Issey Ogata) auf ihn aufmerksam: In der Militärakademie von Nakano schult er den 22-Jährigen für ein Spezial-Kommando. Er soll mit einer Handvoll Soldaten die tropische Insel Lubang gegen eine Landung der US-Truppen verteidigen, bis japanische Streitkräfte wiederkehren.

Offizieller Filmtrailer OmU


 

Paradox von Autonomie + Auftragserfüllung

 

Dazu impft Taniguchi seinem Schützling Maximen ein, die dem traditionellen Samurai-Ehrenkodex widersprechen: kein Kadavergehorsam und keine Selbstaufopferung! Um seine Mission zu erfüllen, muss Onada unter allen Umständen am Leben bleiben – und hat dafür völlige Handlungsfreiheit. Absolute Autonomie, um seinen Auftrag um jeden Preis auszuführen – dieser paradoxe Befehl wird den Empfänger in eine arge Zwickmühle bringen.

 

Kaum ist er auf Lubang eingetroffen und hat die dort stationierten Besatzungssoldaten diszipliniert, greifen die Amerikaner an. Onada muss mit seinen Männern ins bergige Inselinnere flüchten. Nahrungsmangel, Krankheiten und Defätismus dezimieren sie; bald ist nur noch ein Quartett übrig. Mit ihm verlegt sich der Offizier auf Guerilla-Taktik. Bei Nacht und Nebel steigen sie zu den Feldern hinab; die setzen sie in Brand, um Präsenz zu zeigen, und stehlen den Bauern Getreide oder Vieh als Proviant.

 

Jahrzehntelange Eremiten-Existenz

 

Wogegen sich die Insulaner verteidigen: Bei einem Scharmützel wird der Soldat Siochi Shimada 1953 verletzt und stirbt wenig später. Vier Jahre zuvor hatte sich bereits Yûichi Akatsu abgesetzt und die Außenwelt über die Existenz der Gruppe informiert. 1952 führt er einen Suchtrupp an, der mit Megaphonen, Zeitungen und persönlichen Dokumenten das verbliebene Trio zum Aufgeben bewegen will. Vergeblich: Onada, Shimada und Kinshichi Kozuka halten die Patrouille für eine Kriegslist.

 

Nach Shimadas Tod fristen Onada und Kozuka jahrzehntelang eine karge Survival-Existenz als Eremiten. Im aus Blättern geflochtenen Zelt hausend, in zerschlissene Uniform-Reste gehüllt und sich mit Blattwerk tarnend, gleichen sie zerlumpten Wegelagerern. Als Kozuka 1972 bei einem Gefecht erschossen wird, bleibt der verhärmte Onada (Kanji Tsuda) noch zwei Jahre allein im Regenwald.

 

An Lehre festhalten, wenn alles zerfällt

 

Dort spürt ihn der japanische Student Norio Suzuki (Taiga Nakano) auf. Der Globetrotter will auf seinen Reisen „Leutnant Onoda, einen Panda und den Yeti finden, in dieser Reihenfolge“ – der verlorene Offizier ist für ihn vor allem eine Kuriosität. Auf dessen Verlangen schafft er Major Taniguchi nach Lubang: Erst auf Befehl seines Ex-Vorgesetzten ist Onoda bereit, sich zu ergeben und seine Waffen auszuhändigen. Danach wird er ehrenvoll ausgeflogen.

 

Hintergrund

 

Lesen Sie hier eine Rezension des Films "Monos – Zwischen Himmel und Hölle" – bildgewaltiges Jugend-Guerilla-Epos im Regenwald von Kolumbien von Alejandro Landes

 

und hier eine Besprechung des Films "The 800" – Monumental-Epos über die japanisch-chinesische Schlacht um Schanghai von Hu Guan

 

und hier einen Beitrag über den Film "Mishima – Ein Leben in vier Kapiteln" – brillantes Biopic über den japanischen Autor Yukio Mishima von Paul Schrader

 

und hier einen Bericht über den Film "Apocalypse Now – Final Cut (WA)" – Neufassung des besten Kriegsfilms aller Zeiten im Dschungel von Vietnam von Francis Ford Coppola.

 

Diese sich über drei Dekaden hinziehende Robinsonade schildert Regisseur Hariri völlig unpathetisch – und schon gar nicht als herkömmlichen Kriegsfilm. Vielmehr als Studie über die Mechanismen von Realitätsverlust: Detailliert zeigt er, wie für den Jungoffizier – sobald er seinen Posten bezogen hat – die Inselwelt um ihn herum buchstäblich in Fetzen zerfällt und in Flammen aufgeht. Er hat fast nichts mehr, an dem er sich festhalten kann; gerade deshalb hält er an der Indoktrination seines Lehrers Taniguchi eisern fest.

 

Lehrstück zu alternativer Fakten-Konstruktion

 

Mehr noch: Sein Widerstand richtet sich weniger gegen eine feindliche Macht, die längst Japans wichtigster Verbündeter geworden ist, sondern gegen die sich wandelnde Wirklichkeit an sich. Wie sich Onada, Shimada und Kozuka aus den Zeitungen, die der Suchtrupp 1952 zurücklässt, Stück für Stück eine wahnwitzige, aber in sich stimmige Beschreibung der Lage zusammenbasteln, die zu ihrem Weltbild von 1944 passt: Das ist ein Lehrstück über die Konstruktion alternativer Fakten. Heutige Populisten machen es kaum anders – weil sie gleichfalls im Dickicht ihrer Vorurteile hocken bleiben wollen.

 

So wird dieser Film zur Fallstudie, die über ihren entlegenen Schauplatz weit hinaus in die Gegenwart weist. Wobei ihr exotisches Kolorit trotz drei Stunden Laufzeit keine Längen hat: Die Psychodynamik im versprengten Häuflein und sein Überlebenskampf in malerischer, aber lebensfeindlicher Umgebung fesseln durchweg. Dieses Meisterwerk dürfte es dennoch im hiesigen Kino schwer haben: Soldaten-Porträts, zumal das eines japanischen Kämpfers, stehen nicht mehr hoch im Kurs. Obwohl dessen Aus-der-Zeit-gefallen-sein der Realitätsverweigerung vieler Zeitgenossen ähnelt.