Juliette Binoche

Wie im echten Leben

Die Schriftstellerin Marianne Winckler (Juliette Binouche) möchte verstehen lernen und arbeitet als Putzfrau inkognito in der Hafenstadt Caen. Foto: © Neue Visionen Filmverleih
(Kinostart: 30.6.) Putzfee ohne Märchenland: Juliette Binoche recherchiert als Autorin inkognito in einer Reinigungskolonne für ein Buch über schlecht bezahlte Drecksjobs. Das inszeniert Regisseur Emmanuel Carrère mit feinem Gespür für Realismus, aber ohne sozialkritische Schärfe.

„Stellen Sie sich vor, Sie sind eine Reinigungskraft in einem Unternehmen oder öffentlichen Gebäude. Was machen Sie, wenn man Sie nicht zurückgrüßt? Na, ist doch klar, LHTD. Abkürzung für: Lächeln, Hallo, Tschüß, Danke. Vergessen Sie das nie!“

Info

 

Wie im echten Leben

 

Regie: Emmanuel Carrère,

106 Min., Frankreich 2021;

mit: Juliette Binoche, Hélène Lambert, Léa Carne

 

Website zum Film

 

Die meisten der angehenden Putzkräfte lächeln, als ihnen der Leiter des Einführungskurses für ihre Putzkolonne das voller Enthusiasmus erklärt – ein Lächeln, das einer unangenehmen Einsicht folgt: Dieser Job befindet sich auf der Skala der sozialen Anerkennung ganz unten. Selbst wenn mein freundlicher Gruß ignoriert wird von einer Person, deren Fäkalienreste ich gerade aus der Toilette entfernt habe, soll ich brav lächeln und auch noch dankbar sein.

 

Wenn der Zuschauer nicht zurückgrüßt

 

Es ist eine harte, aber durchaus realistische Arbeitswelt, die der Schriftsteller und Drehbuchautor Emmanuel Carrère in seinem ersten Film seit 17 Jahren entwirft. „Wie im echten Leben“ spielt in einer Sphäre, die nicht viele Zuschauer kennen dürften – womöglich sind viele von ihnen auch einmal jene Person gewesen, die nicht zurückgegrüßt hat.

Offizieller Filmtrailer


 

Warten auf einen reichen Typen

 

Gesellschaftliches Bewusstsein zu schärfen, wie schlecht die Arbeitsbedingungen im Niedriglohnsektor sind, ist einer der Gründe, warum auch Marianne (Juliette Binoche) in diesem Seminarraum sitzt – wenn auch inkognito. Eigentlich lebt die renommierte Schriftstellerin in Paris. Doch vor ein paar Wochen ist sie in die nordfranzösische Hafenstadt Caen umgezogen, um sich im Jobcenter als arbeitslose, geschiedene Frau auszugeben.

 

Nun ist sie in einer Putzkolonne gelandet. Beim Kloputzen oder Bodenschrubben lernt sie schnell ihre Kolleginnen kennen; mit der alleinerziehenden Mutter Christèle (Hélène Lambert) freundet sie sich an. Die ist chronisch pleite und sagt beim gemeinsamen Bowling-Abend Sätze wie: „Vielleicht finde ich ja bald einen reichen Typen, der mir und meinen Kindern Geschenke macht“. Woraufhin Marianne als emanzipierte Intellektuelle angestrengt lächelt, um sich nicht anmerken zu lassen, was sie davon hält.

 

Süffisante + eloquente Abrechnungen

 

Doch manches verbindet fortan die beiden Frauen: tägliche Demütigungen, Zeitdruck und schlechte Bezahlung. Aber während Marianne jederzeit aufhören kann, wird das Christèle wahrscheinlich nie schaffen. Das heißt: jeden Morgen um 4.30 Uhr aufstehen und auf einer Fähre zusammen mit zwölf Kolleginnen 230 Kabinen in eineinhalb Stunden säubern – wenn ein Fleck zurückbleibt, wird frau vom Chef als Idiotin bezeichnet.

 

Solche Vorfälle sind für Marianne Stoff für ihr geplantes Buch. Ist sie unbeobachtet, zückt sie ihren Notizblock, um das Erlebte festzuhalten. Carrère inszeniert das in Form von inneren Monologen, so süffisanten wie eloquenten Abrechnungen mit den Umständen. Das verbirgt Marianne vor ihren Kolleginnen geschickt, um nicht aufzufliegen. Doch je besser die Mittfünzigerin die Mittdreißigerin Christèle kennenlernt, desto schwerer fällt es ihr, das Doppelspiel durchzuhalten.

 

Putze: Mein Leben im Dreck

 

Bei der Aufteilung von Spritgeld etwa ist das moralische Dilemma der wohlhabenden Autorin geradezu spürbar. Solche Details über unausgesprochene Klassengegensätze zeigen Carrères feines Gespür für sozialen Realismus. Manchmal glaubt man, den Akteuren wirklich bei ihrem realen Leben zuzuschauen. Doch dieses Unaufgeregte lässt nach rund einer Stunde den Film auch vor sich hin plätschern – und nimmt ihm am Ende seine sozialkritische Schärfe.

 

Zum Schluss scheint es, als sei das eigentliche Drama, dass Marianne das Dasein ihrer Kolleginnen als Rohmaterial für ihren Roman benutzt – und nicht ihre Arbeits- und Lebensbedingungen selbst, die von Jobunsicherheit, Niedriglöhnen und damit verbundenen Nöten im Privatleben geprägt sind. Dabei basiert der Film auf Recherchen der französischen Journalistin Florence Aubenas, die sie 2010 im Erfolgssachbuch „Putze: Mein Leben im Dreck“ veröffentlichte.

 

Auf Distanz zu schmutzigen Details

 

Hintergrund

 

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und hier einen Beitrag über den Film "Zwei Tage, Eine Nacht" - fesselndes Sozialdrama über drohenden Jobverlust von Jean-Pierre + Luc Dardenne mit Marion Cotillard.

 

Ähnliches gibt es auch hierzulande, etwa Reportagen von Günter Wallraff, der sich für „Die Lastenträger“ (2014) in die Welt der Zeitarbeit begab. Oder Heike Geißlers Bericht „Saisonarbeit“ (2014) über ihre Tätigkeit als Logistikfachkraft in der Warenauslieferung von Amazon. Doch während Geißler bisweilen nah an Details heranzoomt, etwa auf ihre schmutzigen Hände nach wochenlanger Plackerei, bleibt „Wie im echten Leben“ eher auf Distanz.

 

Dem Film fehlt zudem die Empathie wie in den Werken des britischen Regisseurs Ken Loach – etwa „Sorry we missed you“ von 2020. Ihm gelingt es, trotz prekärer Arbeitsverhältnisse und -losigkeit zugleich auch stets auf berührende Weise vom Alltag der Figuren zu erzählen und damit das Publikum für sie einzunehmen.

 

Mehr Leidenschaft, bitte!

 

Dagegen verlässt sich Regisseur Carrère vor allem auf das schauspielerischen Können von Superstar Juliette Binoche, aber auch von Hélène Lambert. Beide beherrschen die Darstellung feinster emotionaler Register.

 

Während Binoche mit minimaler Mimik ihren wachsenden inneren Widerspruch als „Undercover-Autorin“ ausdrückt, wirkt Lambert als Christèle so, als könne sie vor lauter aufgestauter Wut jederzeit explodieren – um dann mit zynischen Sprüchen die Contenance zu bewahren. Mehr solcher leidenschaftlichen Emotionen hätten dem Film selbst auch gut getan.